Lesung mit Wolfgang Fritz Haug, Moderation: Klaus Bochmann. Zum 80. Geburtstag Wolfgang Fritz Haugs wird ein tiefer Blick in seine Denk- und Schreibwerkstatt veröffentlicht, der zugleich einen kommentierenden Mitschnitt der bislang wenig aufgearbeiteten Dekade 1990 bis 2000 liefert. Das Journal zeigt u.a. wie beim Kollaps der Sowjetunion der globale Hightech-Kapitalismus gewann.
W.F. Haug zeigt seine Notizen in großen Umbrüchen. Bereits 1990 erschien sein ›Perestroika-Journal‹ (Juni 1989 bis Mai 1990) mit von ihm selbst so bezeichneten ›Wahnehmungsversuchen‹ zur Selbstaufgabe der sozialistischen Länder. Auch in diesem Buch sind die fertigen Gewissheiten in der Minderheit, vielmehr kann man dem Chronisten zusehen, wie er wahrnimmt, zweifelt, nichts einfach stehen lässt, sondern unbequem hinterfragt und manche unbequeme Antwort findet. Man geht durch eigene Zweifel, wird sich ihrer bewusst, um wie der Autor teilzuhaben an dem Projekt, nichts unversucht zu lassen. Wie kann man aus der allfälligen Position eines Spielballs zu jemandem werden, der dem Feldzug des Wegglättens und Zurechtschusterns Überlegungen in den Weg stellt und so dem Unrecht in den Arm fällt – auf den Ebenen des Zeitgeists, der Politik, der Sachwalter der Verneblung?
Mit wachsamem Blick auf mediale Diskurse, wirtschaftliche Entwicklungen und historische Umdeutungen verfolgt W.F. Haug ein Jahrzehnt, in dem kapitalistische Ökonomie und neoliberale Politik auftrumpften wie nie zuvor. Sein Arbeitsjournal beleuchtet und ruft in Erinnerung, wie in jener Dekade die Weichen gestellt wurden für den modernen Hightech-Kapitalismus und seine Mensch und Ressourcen verschleißende Globalisierungsoffensive. Es dokumentiert Versuche Einzelner, sich in einer Welt des Paradigmenwechsels zu positionieren – gedanklich, politisch, existenziell, oft schmerzlich ohne Perspektive. Immer wieder geht Haugs Blick über den Tellerrand auf die Suche nach den Zusammenhängen: vom schrittweisen Zerreißen der Sowjetunion und der D-Mark-seligen Abwicklung der Ex-DDR über Inflation in der Türkei und weltweite Börsenkrisen bis zu lateinamerikanischen Gegenpolitikversuchen sowie dem Vormarsch des Internet in die Wirtschafts- und Lebensbereiche. Eine Chronik aufmerksamen Hinschauens von der ›Wende‹ bis zur Jahrhundertwende: Wer aus der Geschichte lernen will, braucht solche Dokumente.