Um regionale Aspekte der Energiewende in Mitteldeutschland ging es am 19. Oktober auf einer Fachtagung in der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig (SAW). Über 50 Fachleute aus Wissenschaft, Wirtschaft, öffentlicher Verwaltung sowie Raum- und Regionalplanung aus der ganzen Region kamen zusammen, um aktuelle Informationen aus ihren Bereichen auszutauschen und sich zu vernetzen.
Die Tagung wurde gemeinsam veranstaltet von der Landesarbeitsgemeinschaft Sachsen/Sachsen-Anhalt/Thüringen der ARL – Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft, der Kommission Landeskunde der SAW sowie der Europäischen Metropolregion Mitteldeutschland (EMMD).
Prof. Dr. Hans Wiesmeth, bis Ende 2023 Präsident der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, betonte zur Begrüßung, welch großer Gewinn eine solche Vernetzung für die SAW und insbesondere für die Kommission Landeskunde sei, „weil wir damit den Kontakt zur Praxis stärken können: Das heißt, dass wir unsere eigenen disziplinübergreifenden Arbeiten und Überlegungen noch besser erden können“, so Wiesmeth. Ebenso wie Dipl.-Ing. Clemens Ortmann (Leiter der ARL Landesarbeitsgemeinschaft) und Prof. Dr. Bernhard Müller, (Leiter der Kommission Landeskunde, aus China per Videoschalte präsent) äußerte Wiesmeth die Anregung, einen solchen Austausch zu wiederholen.
Die Tagung moderierten Dipl.-Ing. Clemens Ortmann sowie Dr.-Ing. Stefanie Rößler vom Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR) und Mitglied der Kommission Landeskunde/Arbeitsgruppe Stadtentwicklung der SAW.
Vorträge
Die Basis für die Diskussionen bildeten drei Fachvorträge:
- zum Netzausbau (Dr.-Ing. Matthias Sturm, TEAG),
- zur Wasserstoffregion Mitteldeutschland (Jörn-Heinrich Tobaben, Metropolregion Mitteldeutschland Management GmbH) sowie
- zur Landschaftsentwicklung angesichts regionaler Aspekte der Energiewende (Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Wende).
Dr. Matthias Sturm: Szenarien für ein treibhausgasneutrales Energiesystem bis 2045
Beispielszenario für Thüringen
Dr. Matthias Sturm ist Geschäftsbereichsleiter Unternehmensentwicklung und Kommunikation der Thüringer Energie AG (TEAG). Für Thüringen zeigte er beispielhaft, wie ein treibhausgasneutrales Energiesystem bis 2045 aussehen könnte: Energieimporte aus weitgehend fossilen Rohstoffen für Strom, Wärme- und für den Verkehrsbereich aus anderen Bundesländern könnten zum Beispiel von etwa 80 Prozent (2019) auf 20 Prozent (in 2045) reduziert werden. Voraussetzung hierfür freilich sei, dass es gelänge, die Thüringen-eigenen Kapazitäten an Erneuerbaren Energien entsprechend auszubauen.
Eine solche Gesamt-Energiebilanz sieht unter anderem vor, die Stromleistung aus Solarenergie von 1,4 auf 9 Terrawattstunden pro Jahr (TWh/a) zu steigern (also im Vergleich zu 2019 um 643 Prozent) und den aus Windkraft gewonnenen Strom von 3,2 auf 11 TWh/a, während der Anteil aus Biomassestrom von 1,7 auf 2 TW/h vergleichsweise wenig zunehmen würde. „Gleichzeitig müssten laut dieser Beispielrechnung auf der Verbraucherseite im Verkehr 10 Terrawattstunden pro Jahr eingespart werden und im Wärmebereich 12“, damit der Bedarf bilanziell aus Erneuerbaren Energien gedeckt werden könne. Dabei wird im Wärmebereich zum Teil Erdgas durch Wasserstoff und Biomethan ersetzt, aber auch ein verstärkter Einsatz von strombetriebenen Umweltwärmepumpen wird erfolgen. Im Verkehrsbereich erfolgt der Übergang zur Elektromobilität. Alle Szenarien gehen davon aus, dass der Strombedarf sich deutlich erhöhen wird – trotz oder vielleicht auch gerade mit bedingt durch die begonnenen Transformationsprozesse.
Situation in Gesamtdeutschland
So sieht der von Sturm präsentierte Netzentwicklungsplan der deutschen Übertragungsnetzbetreiber bis 2045 für ganz Deutschland eine tatsächliche Verdoppelung des Bruttostrombedarfs vor: von 533 auf 1.106 Terrawattstunden. Der Plan zeigte drastisch, welche Ausbauten im Bereich der Elektrolyseure und Batteriespeicher in der Bundesrepublik zu erwarten sind. Diese sind unerlässlich, um Energie aus fluktuierenden erneuerbare Quellen umzuwandeln bzw. vorzuhalten. Laut diesem Szenario müssten die Batteriespeicherkapazitäten in Deutschland von derzeit 1,8 Gigawatt auf 141 Gigawatt erweitert werden, wobei diese Zahl sowohl PV-Kleinspeicher als auch Großbatteriespeicher beinhaltet.
Was Speichertechnologien im Zuge des Ausbaus erneuerbarer – und damit naturgemäß fluktuierender – Energiequellen betrifft, „so sehen wir bei den künftig erforderlichen Leistungen und Mengen aus heutiger Sicht kostenbedingt nur die realistische Möglichkeit, heutige Erdgasspeicher zu nutzen“, so Sturm. Dabei wird der durch Elektrolyse erzeugte Wasserstoff in ein Gas-Netz eingespeist. In Thüringen werden derzeit in einem Projekt zwei Erdgasspeicher entsprechend zugerüstet, so der Fachmann. Pumpspeicherwerke seien wichtig, aber „im Moment noch nicht in der Lage, diese großen Energiemengen zu speichern.“
Extremer Aufwuchs derzeit an Photovoltaik-Anlagen in Thüringen
„Nach 20 Jahren Energiewende“, so Sturm, übersteige die Einspeiseleistung auch im Thüringer Stromnetz nun die maximale Entnahme. „Und bis 2045 soll sich die installierte Leistung Erneuerbarer im Durchschnitt mindestens verfünffachen“, erläuterte der Fachmann. „Wir haben derzeit einen extremen Aufwuchs an angefragten Photovoltaik-Anlagen aller Leistungsklassen.“ So lägen rund 600 Anträge von PV-Anlagen größer als 30 Kilowatt mit einer beantragten Gesamtleistung von 4,5 Gigawatt vor. „Das ist ungefähr das Zweieinhalbfache von der derzeit in Thüringen installierten Leistung“, so Sturm. Etwa 6.000 kleinere Anlagen wie Dachanlagen im Eigenheimbereich kämen hinzu. Die Folge: Es gäbe längere Wartezeiten, Rückstände von bis zu acht Monaten und Realisierungszeiträume von mehreren Jahren. Netze müssten dringend ausgebaut werden.
Parallel sei damit zu rechnen, dass auch der Energieverbrauch im Zuge des Transformationsprozesses zunächst erheblich steige, wobei zunehmende Elektromobilität, Verbreitung von Wärmepumpen und Kleinspeichern sich eher im Niederspannungsnetz bemerkbar machten, so Dr. Matthias Sturm. Hinzu käme ein steigender Bedarf in der Thüringer Industrie, etwa durch Erweiterung von Produktionsstandorten oder durch die Elektrifizierung von Gasprozessen.
Ausbau der Übertragungsnetze drängt
Sturm gab einen Überblick über in Planung befindliche Vorhaben zur Verstärkung und zum Ausbau der Übertragungsnetze in der Region, die teils jedoch vor genehmigungstechnischen Herausforderungen stünden. Die Arbeitsgemeinschaft der Verteilungsbetreiber in Thüringen, Mittel- und Ostdeutschland arbeiteten gemeinsam an der regionalen Umsetzung des Netzausbaus. Ihnen haben sich eine Reihe von Stadtwerken angeschlossen. „Nur so kann es gelingen,“ sagt Sturm.
Insgesamt entspreche allein der Stromnetz-Ausbaubedarf über alle Spannungsebenen hinweg bereits bis 2028/30 etwa 650 Millionen Euro. Gleichzeitig „haben wir als Netzgesellschaft ein großes Interesse daran, sehr frühzeitig in die Planungen mit eingebunden zu werden, wenn es um eventuelle Vorrangflächen für Wind- oder Photovoltaikanlagen geht“, so Sturm. Das helfe, frühzeitig zu identifizieren, „wo wir das Netz ausbauen müssen und wo Umspannwerke hin müssen.“ Diese Einbindung sei in Thüringen schon gut vorangeschritten.
Jörn-Heinrich Tobaben: Mitteldeutschland bereits jetzt Wasserstoffregion
Über die Produktion und Nutzung von Wasserstoff als Speichermedium in Mitteldeutschland sprach Jörn-Heinrich Tobaben. Der Geschäftsführer der Metropolregion Mitteldeutschland Management GmbH ist zugleich stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Wasserstoffnetzwerks HYPOS. Dieses von Bund und Sachsen-Anhalt geförderte Konsortium bündelt seit zehn Jahren die Potenziale von kleinen und mittleren Unternehmen, von Industrie und Großunternehmen, Hochschulen und Forschungseinrichtungen, um die grüne Wasserstoffwirtschaft in Mitteldeutschland zu etablieren.
Zu den mittlerweile über 170 Mitgliedern gehören die Universität Leipzig und die TU Dresden, die Bergakademie Freiberg, verschiedene Fraunhofer Institute, die bereits erwähnte TEAG, die Stadt sowie die Stadtwerke Leipzig, die BMW Group, RWE Generation SE, MIBRAG und die Metropolregion Mitteldeutschland, die HYPOS mit gegründet hat.
Wasserstoff sei zwar teuer, „aber wir brauchen es trotzdem dringend“, sagte Tobaben. Im Energiesystem der Zukunft sei Wasserstoff wichtig, da es eine extrem hohe Energiedichte habe und dabei eine vergleichbar hohe Ausspeicherdauer erlaube – anders als andere Speichermedien.
„Mitteldeutschland ist bereits eine etablierte Wasserstoffregion“, konstatierte er gleich zu Beginn seines Vortrags. Die zweitlängste Wasserstoffpipeline in Deutschland – nach jener im Ruhrgebiet (240 Kilometer) – verbindet hier auf rund 150 Kilometern Länge die Chemieparks in Sachsen und Sachsen-Anhalt, zu denen Rodleben, Bitterfeld-Wolfen, Schkopau, Leuna, Böhlen-Lippendorf und Zeitz gehören. Betriebsführer ist die Linde AG. Die jährliche Produktion und Nachfrage seitens der Industrie nach Wasserstoff belaufe sich auf 5,3 Milliarden Normenkubikmeter. Dieses komme hauptsächlich aus Erdgas, welches durch einen Dampf-Reformer in Wasserstoff und Kohlendioxid zerlegt wird. „Das ist der sogenannte graue Wasserstoff – das geht nicht anders, aber den Prozess wollen wir ändern.“ In Leuna werden nicht weniger als 100.000 Normenkubikmeter Wasserstoff pro Stunde produziert, wie Tobaben berichtet. „Das ist wirklich viel.“
Demnächst soll ein PEM-Elektrolyseur an den Start gehen, der 4.800 Normenkubikmeter grünen Wasserstoff pro Stunde produziert. Grüner Wasserstoff wird weiterhin in der Region zudem in Bitterfeld-Wolfen erzeugt. Zu den regionalen Wasserstoff-Groß-Abnehmern zählen die SKW Piesteritz (Wittenberg) – die unter anderem Ammoniak herstellt sowie Total Energies (Leuna), die Rohöl unter anderem zu Kraftstoffen verarbeiten. „Das ist im Grunde die Benzin- und Dieselversorgung für Ostdeutschland“, wie Tobaben berichtete. Anders als bisher sei Wasserstoff nicht mehr nur Chemie-Rohstoff, sondern werde auch im energiewirtschaftlichen Kontext immer bedeutsamer.
Speicherprojekt Energiepark Bad Lauchstädt soll ab 2027 in Realbetrieb gehen
Derzeit erproben über 70 Industrie- und Forschungsvorhaben die grüne Wasserstoffwirtschaft in Mitteldeutschland. Eines davon ist der Energiepark Bad Lauchstädt. Dieser vereint die Erzeugung, Speicherung, Transport, Vermarktung und Nutzung von Wasserstoff unter einem großen Dach und bringt hierfür unterschiedliche Partner zusammen. Innerhalb der nächsten fünf Jahre sollen dort an den Start gehen: ein Windpark mit 50 MW Leistung mit direktem Anschluss an einen Großelektrolyseur mit 30 MW Nennleistung der Firma Sunfire aus Dresden, ein Umspannwerk und eine umgewidmete Untertage-Kaverne mit 50 Mio. Kubikmetern Volumen. Eine Erdgasleitung soll auf Wasserstoff umgerüstet werden, mögliche Geschäftsmodelle entwickelt, analysiert und optimiert werden; die Nutzung des Wasserstoffs für die chemische Industrie seitens Total Energies sowie für Mobilität vor Ort soll ermöglicht werden. Für 2027/2028 ist der Realbetrieb geplant, wie Jörn-Heinrich Tobaben berichtete. „Das Gute daran ist, dass wir die Wertschöpfung hier in der Region halten und vielleicht noch ausbauen.“
Das Projekt wird von der Bundesregierung im Rahmen der Reallabore der Energiewende gefördert.
Prof. Wolfgang Wende: Landschaftsentwicklung und regionale Energiewende
Überblick über Stand des Ausbaus der Photovoltaik und Windparks in Deutschland
Den dritten Impulsvortrag gab der Landschaftsplaner Prof. Dr. Wolfgang Wende. Er ist Professor für Siedlungsentwicklung an der TU Dresden und zugleich Leiter des Forschungsbereiches Landschaft, Ökosysteme und Biodiversität am Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR). In der Sächsischen Akademie der Wissenschaften ist Wende Externes Mitglied der Kommission für Landeskunde in der AG Stadtentwicklung. Seine Fachgebiete umfassen unter anderem die Akzeptanz von Großanlagen Erneuerbarer Energien, aber auch den Erhalt der Biodiversität.
Er stellte den derzeitigen Stand des Ausbaus von Windkraft- sowie von Freiflächen-Photovoltaik-Anlagen in Deutschland vor. Demnach gehört Mitteldeutschland in beiden Bereichen zu jenen Regionen, die bereits gut vorangekommen sind. Auch der Zuwachs von PV-Anlagen bei Haushalten finde jetzt intensiver statt, wie bereits Dr. Matthias Sturm berichtet hatte.
Keine Stagnation bei PV-Freiflächenanlagen
Es werde kolportiert, dass es in den vergangenen Jahren weniger Genehmigungen für Freiflächen-PV-Anlagen gegeben hätte, einen Rückgang oder Stagnation. „Das konnten wir deutschlandweit nicht erkennen“, so Wende. Bei Freiflächen-Photovoltaik sei seit 2008 ein leicht kontinuierlicher Flächenzuwachs von 0,01% pro Jahr auf der Gesamtfläche Deutschlands zu verzeichnen. Über die Hälfte neuer Freiflächen-PV-Anlagen kommen auf Ackerflächen, so Wende; der finanzielle Förder-Anreiz für Landwirte sei sehr hoch – „bis um den Faktor acht“ höher als die Agrarförderung, wie Matthias Sturm ergänzte. 29 Prozent neuer Anlagen wurden auf ehemaligen Industrieflächen, sogenannten Konversionsflächen, gebaut. Hier sei das Potential jedoch bereits fast ausgeschöpft. 15 Prozent schließlich gehen auf sogenanntes Grünland.
Artenschutz und Biodiversität
„Wegen ihrer Umzäunung können Freiflächen-Photovoltaikanlagen zur Fragmentierung der Landschaft beitragen und sie verringern die Durchgängigkeit für Arten und für Biodiversität“, gibt Prof. Wende zu bedenken. Allerdings könnten sie sich auch positiv auf die Biodiversität auswirken, „wenn auf vormalig intensiv genutzten Ackerflächen extensive, naturnahe Nutzungen wie blütenreiche Wiesen unterhalb PV-FF etabliert und langfristig ökologisch gepflegt werden“, so der Experte, der selbst Mitglied im Bundesverband Beruflicher Naturschutz ist (vgl. auch BfN 2022). Das Problem dabei sei: „Die Freiflächenanlagen sind alle umzäunt – und müssen es aus versicherungstechnischen Gründen sein.“ Vorschläge gingen in die Richtung, „dass man die Zäune zumindest ein Stück anheben kann, sodass Kleinsäuger durchwandern können, dass Migrationswege für bestimmte Tierarten nicht unterbrochen werden.“ Dies werde regelmäßig versprochen. Aber in der Praxis gäbe es kaum Anlagen, welche solche Artenschutz- und Diversitätsaspekte voll berücksichtigten.
„Problematisch erscheinen die Nutzung von Landwirtschaftsflächen auf Böden mit hohen Ertragszahlen und (renaturierte) Moorflächen“, so Wende. Auch Konflikte mit Landschaftsschutzgebieten und dem Biotopverbund könnten auftreten. Es stelle sich darum die Frage, ob beim Ausbau der Photovoltaik nicht vorrangig das immense Potential von Dach- und Fassadenflächen genutzt werden sollte. „Allein Dachflächen umfassen ein Potential von 4.440 Quadratkilometern und damit einen potentiellen Stromertrag von 937 Terrawattstunden pro Jahr“, so der Fachmann.
Angesichts großer Diskussionen um eine Vereinfachung des Artenschutzrechts auf europäischer und deutscher Ebene mit dem Ziel, Genehmigungsverfahren zu beschleunigen, betonte er: „Das hat auch wirklich Implikationen für Biodiversität, die wir uns bewusst machen müssen.“
Empfinden der Schönheit von Landschaft ist objektivierbar – und könnte nützlich für die Regionalplanung sein
Prof. Wende stellte zwei bemerkenswerte Studien vor, deren Ergebnisse in künftige Planungsverfahren mit einfließen könnten. Diese untersuchten, welche Eigenschaften einer Landschaft von Menschen als schön und welche als weniger schön wahrgenommen werden. Der Grundgedanke: als schön empfundene Landschaften zu schonen und nicht mit großen Infrastrukturen erneuerbarer Energien zu verplanen, um zu erwartenden Widerstand aus der Bevölkerung zu vermeiden.
Laut einer Studie des Leibniz-Instituts für Ökologische Raumentwicklung (Walz & Stein, 2018) werden von Menschen diejenigen Landschaften als attraktiv bewertet, die in ihrem Relief vielfältig sind, wie beispielsweise Hügel- oder Berglandschaften. Ebenso eine Rolle spielt die Hemerobie, also wie naturnah eine Landschaft empfunden wird, wie stark Bäume oder Sträucher vertreten sind, die Nähe zu Gewässern, Küstenlinien sowie der Anteil von nicht fragmentierten Freiräumen über 50 Quadratkilometern. Landschaften, die bereits „technoide Elemente“ aufweisen wie Hochspannungsleitungen, auch Windkraftanlagen oder Photovoltaikanlagen werden „im Schnitt doch eher als konträr zu einer Landschaftsattraktivität von Bürgerinnen und Bürgern gesehen“, berichtete Wende.
Detaillierter mit der Schönheit von Landschaft beschäftigten sich Silvio Hildebrandt und Michael Roth (Hildebrandt 2022 und Roth et al. 2018). In ihrer repräsentativen Studie, die 2022 veröffentlicht wurde, ließen die beiden Autoren 3.556 Teilnehmerinnen und Teilnehmer online insgesamt 822 Fotos von Landschaften auf einer neunstufigen Skala bewerten, ohne zu den Fotos vorgefertigte Kategorien festzulegen. Allein das persönliche Ästhetik-Empfinden wurde abgefragt. Die Fotos dokumentierten 30 Stichprobenflächen von einer Größe von je 150 Quadratkilometern, die aus einem bundesweiten Raster per Zufall ausgewählt wurden. Durch die Berechnung von Sichtachsen konnte jedes Foto geographisch zugeordnet werden. Durch die Studie konnte die empfundene Schönheit der Landschaften auf 1x1 Quadratkilometer genau erfasst werden. „Mithilfe von statistischen Modellen konnten wir tatsächlich 80 potentielle Indikatoren aus diesen Fotos ableiten, welche die Leute dazu bringen, zu sagen: ‚Diese Landschaft ist schön und diese ist nicht schön‘“, so Wende.
Die Autoren fanden heraus, dass Landschaftsreliefs zu den wichtigsten Einflussfaktoren gehörten. Auch offene Landschaften, wie beispielsweise Heide-Landschaften wurden als schön wahrgenommen. „Wir haben eine extrem homogene Einschätzung von dem, was Probanden als landschaftlich schön empfinden. Das ist hochspannend und jetzt haben wir wirklich die Empirie dafür.“
Diese Daten können helfen, zusätzliche Argumente in den Abwägungen für die Ausweisung geeigneter Gebiete für den Ausbau der Erneuerbaren Energien zu nutzen. Anders gesprochen: „Muss man denn wirklich mit den Windkraftanlagen jetzt beispielsweise auf den Erzgebirgskamm?“, so Wende. Er und sein Team würden sich freuen, entsprechende Daten etwa der Regionalplanung zur Verfügung zu stellen. Es wäre schade, wenn dieses Werkzeug etwa seitens von potentiellen Investoren als weiteres Hindernis neben den Auflagen des Artenschutzes betrachtet und am liebsten beiseitegeschoben würde, wie Prof. Wolfgang Wende sagte. „Wir haben die wissenschaftlichen Grundlagen. Jetzt liegt es an uns, dass wir das aufgreifen und auch wirklich machen. Sonst vergeben wir uns eine große Chance.“
Diskussion und Austausch
Am Nachmittag diskutierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in zwei Fachforen über die Vorträge und tauschten sich über ihre Praxis-Erfahrungen aus Planungs- und Wirtschaftsperspektive aus. Ernsthaft infrage gestellt wurde, ob die von der Bundesregierung angestrebten 2 Prozent an Landesfläche für den Ausbau zur Gewinnung von Erneuerbaren Energien, genauer gesagt, für Windkraft, überhaupt ausreichen können, wenn sich der Energiebedarf bis 2045 wirklich verdoppeln sollte, insbesondere wenn man die umfangreichen Transformationsprozesse in Richtung Dekarbonisierung und den damit zu erwartenden Wasserstoffbedarf der Industrie mit berücksichtigt. „Allein wenn man die Raffinerien, Zementwerke und Chemieanlagen defossilisieren wollte, wird das nicht reichen“, lautet die persönlich geäußerte Einschätzung von Jörn-Heinrich Tobaben. Wird es gelingen, durch Effizienz den Energiebedarf zu verringern? Wird Deutschland weiterhin auf Importe angewiesen sein, wenn es die Dekarbonisierung erfolgreich umsetzen will?
Lebhaft besprochene Punkte waren ebenso die Realität der Planungsprocedere und Genehmigungsverfahren sowie die damit verbundene, teils als bis in die Absurdität als hürdenreich empfundene Bürokratie. Eine wichtige Frage dabei war: Wie kann man die Akzeptanz der Bevölkerung für den Ausbau der Erneuerbarer Energien steigern? Neben den neuen Ansätzen von Prof. Wende zur Berücksichtigung landschaftlicher Ästhetik bei der Planung und Verortung etwaiger neuer Flächen gab Jörn-Heinrich Tobaben zwei wirtschaftliche Gründe an: Erstens müsse klar werden, dass nicht alles zentral gesteuert werden müsse und neue Anlagen auch dezentrale Gewinne bringen könnten. Die solaren Ausbauziele der Bundesregierung seien in den ersten sieben Monaten dieses Jahres übererfüllt worden. „Wir haben Kapazitätszubau von einem Gigawatt pro Monat in Deutschland, weil alle mitmachen, weil es Förderprogramm gibt.“
Zweitens sei die lokale Anbindung an eine „Grünstromversorgung“ in Kürze ein existenzsichernder Standortvorteil – nämlich wenn 2024 die Europäische Gesetzgebung zu den sogenannten ESG-Kriterien greife. Sehr verkürzt gesagt, müssen ab dann noch mehr Unternehmen als bisher im Rahmen der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) in ihrem Nachhaltigkeitsbericht Auskunft geben über ihren ökologischen (E) und sozialen (S) Fußabdruck sowie über ihre Governance (G) – und sich extern zertifizieren lassen. Nachhaltigkeit werde in Zukunft noch entscheidender für die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen. Das müsse man auch den Bürgerinnen und Bürgern klar machen.
Birgit Pfeiffer
Studien:
Roth, M.; Hildebrandt, S.; Walz, U.; Wende, W. Large-Area Empirically Based Visual Landscape Quality Assessment for Spatial Planning—A Validation Approach by Method Triangulation. Sustainability 2021, 13, 1891. https://doi.org/10.3390/su13041891
Walz, U. u. Stein, C. (2018): Indicator for a monitoring of Germany’s landscape attractiveness. Ecological Indicators 94 (2): 64–73.
BfN (2022): Eckpunkte für einen naturverträglichen Ausbau der Solarenergie. Positionspapier.