Plenarvorträge 1989

 

Vortrag am 8.12.1989
Hans Jürgen Rösler (Freiberg), Ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse:


„Die anorganischen Komponenten der Kohlen“

Kohle wird fast ausschließlich wegen der hohen Gehalte an organischen Inhaltsstoffen als Brennstoffund als chemischer Rohstoff genutzt. Der anorganische Anteil der Braun- und Steinkohlen, der im Durchschnitt 10–20 Masse-% ausmacht, wird bei der Qualitätsdiskussion der Kohle meist als Tatsache dargestellt, ohne auf die Fragen der unterschiedlichen Entstehung dieser Komponenten sowie auf spezielle Fragen der chemischen und physikalischen Eigenschaften und ihrer Nutzung einzugehen. Besondere Aufmerksamkeit haben in jüngster Zeit die anorganischen Bestandteile der Kohle als Ascherückstand in der Umweltproblematik gefunden.

In dem vorliegenden Beitrag werden die wesentlichen naturwissenschaftlichen Grundlagen zu den genannten Problemen gegeben. Im geologischen Bereich liegen die Voraussetzungen für die unterschiedlichen Typen der anorganischen Komponenten, so ihr toniger, sandiger, karbonatischer, kiesiger usw. Charakter. Besondere Beachtung wird dem Schwefelgehalt und seiner unterschiedlichen Erscheinungsform und Genese geschenkt. Auch die anorganischen Komponenten, die sorptiv an die kohlige Substanz gebunden sind, werden eingehender betrachtet und ihre regionalen Unterschiede herausgearbeitet. Zum Schluß wird versucht, die Kohlenaschen, insbesondere der Braunkohle, in ihrer Doppelrolle als nutzbarer Rohstoff sowie als Schadkomponente zu bewerten.

 

Vortrag am 8.12.1989
Werner Bahner (Leipzig), Ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse:


„Frühaufklärung und Absolutismus in Frankreich: der Abbé de Saint-Pierre“

Die Anfänge der französischen Aufklärung reichen in die letzten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts zurück. Als gegen Ende des 17. Jahrhunderts die absolutistische Politik Ludwigs des XIV. immer stärker in eine tiefe Krise geriet und sich oppositionelle Kräfte, insbesondere unter der Aristokratie, zu Worte meldeten, knüpften Frühaufklärer daran an, um ihre eigenen Vorstellungen und Reformvorschläge zu entwickeln. Doch erst mit der 1715 einsetzenden Régence vermochte sich die Aufklärungsbewegung in ihrer Auseinandersetzung mit Aberglauben, Autoritätsgläubigkeit und Vorurteilen deutlicher zu artikulieren. Für die bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts reichende französische Frühaufklärung war charakteristisch, daß sie bei aller Kritik am Regime des Sonnenkönigs der Hoffnung auf ein zukünftiges fruchtbares Zusammenwirken von Krone und Aufklärung Ausdruck verlieh. Die französischen Frühaufklärer setzten sich für eine Modernisierung des Staatswesens im Sinne der fortschreitenden ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung ein. Noch waren sie von der Entwicklungsfähigkeit des absolutistischen Systems überzeugt. Ihnen ging es zwar um eine Lockerung der omnipotenten Staatlichkeit, doch operierten sie noch nicht wie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit radikalen naturrechtlichen Grundsätzen demokratischer Observanz und zogen es vor, auf Hobbes Gesellschaftstheorie zurückzugreifen. Bayle hatte in seinem „Dictionnaire historique et critique“ Hobbes als einen herausragenden Denker gewürdigt. Der Abbé Dubos kannte ebenso wie Fontenelle oder Cartaud de la Vilate Hobbes’ naturrechtliche Argumentation, die zur Legitimierung des Absolutismus dienen konnte. Auch der Abbé de Saint-Pierre hatte von Hobbes eine hohe Meinung. Er bedauerte nur, daß der englische Philosoph bei seinen staatspolitischen Betrachtungen die internationalen Beziehungen unberücksichtigt ließ. Was Hobbes über den Naturzustand schrieb, fand seine Zustimmung ebenso wie die Herausstellung der Notwendigkeit, zwischen Vernunft und Interesse wechselseitige Bezüge herzustellen. Beiden Denkern ging es letztlich um die Gestaltung der sozialen Daseinsbedingungen, um das zweckgerechte Herstellen eines funktionstüchtigen Staatsapparates zur Sicherung des Allgemeinwohls. Unter dieser Zielstellung entwickelte der Abbe de Saint-Pierre seine Reformvorschläge unter Berücksichtigung von Methoden und Einsichten, wie sie vor allem von Descartes, Hobbes oder auch Petty mit seiner Anwendung der Statistik auf soziale Zwecke vorgebracht worden waren. Der Abbe de Saint-Pierre beschäftigte sich eingehend mit Einrichtungen des Absolutismus und ihrer politischen Praxis. Er bewertete deren Mängel und unterbreitete Vorschläge, wie diese zum Nutzen des öffentlichen Wohls zu beheben wären. Er kam zur Erkenntnis, daß das bestehende Steuer- und Finanzwesen einer gründlichen Umgestaltung bedurfte und entwickelte zahlreiche Reformvorschläge zur Verbesserung des staatlichen und öffentlichen Lebens. Vor allem galt es seines Erachtens, die staatliche Verwaltung vernünftig zu organisieren und hierfür kompetente Vertreter zu gewinnen. In die jeweiligen Räte, für die das Rotationsprinzip sowie die öffentliche Kontrolle und Kritik maßgebend zu sein hatten, sollten durch Wettbewerb die fähigsten Kräfte kommen.

Viele der Ideen und Pläne Saint-Pierres ließen sich auf der gesellschaftlichen Basis des Ancien Regime nicht verwirklichen, denn realpolitische Überlegungen verbanden sich hierbei mit utopischer Zukunftsperspektive. J.-J. Rousseau, der sich mit Saint-Pierres Ideen umfassend von einer spätaufklärerischen radikalen Position her auseinandersetzte, formulierte: „Er umriß sozusagen die Spitze eines Gebäudes, dessen Fundamente noch zu entwerfen waren“.

 

Vortrag am 10.11.1989
Fritz Müller (Leipzig), Ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse:


„Neue Entwicklungen zur Pathogenese der Fettsucht“

Störungen der Energiebilanz des Organismus, die zu einer verstärkten Fettspeicherung führen, werden durch exogene und endogene Faktoren verursacht, und tierexperimentell können sie durch unterschiedlichste Eingriffe (Beeinflussung der Nahrungsaufnahme, Veränderung der zentralen Steuerung des Stoffwechsels oder der Energiekonvertierung u.a.m.) induziert werden.

Noch sind uns nicht alle Reaktionen und deren vielfach vermaschte Regelkreise, die an der Aufrechterhaltung der energetischen Homöostase des Organismus beteiligt sind, bekannt. Die systemische Analyse und der Vergleich definierter Störungszustände ist ein Weg zur Vervollkommnung unserer Kenntnisse.

Bei dem von uns in den vergangenen Jahren näher analysierten Tiermodell handelt es sich um einen speziellen Typ einer sogenannten zentralen Fettsucht (in diesem Fall ausgelöst durch die postnatale Zufuhr des Neurotransmitters Glutaminsäure, wodurch distinkte Zentren im Hypothalamus zerstört werden). Daraus resultiert eine verminderte Sekretion des Hormons Somatoliberin und eine reduzierte Aktivität des sympathischen Nervensystems. Somatoliberin steuert die Abgabe des Wachstumshormons (Somatotropin) durch die Hypophyse, was sich durch gestörte Zellproliferation und Wachstumsretardierung der Tiere zu erkennen gibt. Die wichtigsten Auswirkungen der eingeschränkten Aktivität des sympathischen Nervensystems sind:

  • Im braunen Fettgewebe (dieses enthält spezialisierte Mitochondrien, in denen die Substratoxidation von der oxidativen Phosphorylierung entkoppelt ist) wird die Wärmeproduktion reduziert. Damit steht "eingesparte" Nahrungsenergie für die Speicherung zur Verfügung.
  • In den Inselzellen des Pankreas wird die Insulinsekretion gesteigert. Es ist sehr wahrscheinlich, daß die erhöhte Verfügbarkeit von Insulin die Orientierung der Stoffwechselwege in Richtung Fettsynthese determiniert, d.h. den enzymatischen Apparat für die Konvertierung der durch eingeschränkte Thermogenese „eingesparten“ Nahrungsenergie zu Triglyceriden aktiviert.

Das Gesamtbild der Stoffwechselsituation kann damit plausibel interpretiert werden. Nicht erklärbar bleibt aber die synergistische Wirkung der zahlreichen, im Stoffwechselsystem weit auseinanderliegenden und in verschiedenen Ebenen der Regulationshierarchie angeordneten Einzelreaktionen, anscheinend zielorientiert auf die Ausbildung eines neuen Stoffwechselzustandes. Möglicherweise werden solche Fragen durch evolutionsbiologische Studien einer Klärung zugänglich.

Aus den vorliegenden Befunden wird deutlich, daß Fettsucht nicht eine einfache Speicherung überschüssiger Energie ist, sondern eine das gesamte System des Organismus durchziehende Störung darstellt, die sich in funktionellen und strukturellen Veränderungen dokumentiert. Von einem ausreichenden Verständnis über die Vielfalt der auslösenden Faktoren und Entstehungsmechanismen der einzelnen Fettsuchtypen sind wir noch weit entfernt, ebenso wie von einem differenzierten diagnostischen und therapeutischen Vorgehen.

 

Vortrag am 10.11.1989
Friedmar Kühnert (Jena), Ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse:


„Antike Rednerideale“

Angesichts der Tatsache, daß die Redekunst in der griechisch-römischen Antike eine kaum zu überschätzende Bedeutung besaß, ist es verständlich, daß in Griechenland und Rom immer wieder über Wesen und Aufgabe der Beredsamkeit nachgedacht und dabei ein Rednerideal konzipiert wurde, das den jeweiligen gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprach. Dies geschah in der 2. Hälfte des 5. Jh. v. Chr. erstmalig in der älteren Sophistik, als deren charakteristisches Merkmal das Bildungsideal des εὺ λέγειν, der „Wohlredenheit", gelten kann. Die Möglichkeiten und die Macht der Rede und damit des Redners werden erkannt. Der Redner, von dem lediglich die formale Beherrschung der Redekunst und die dazu notwendige Gewandtheit des Denkens gefordert werden, wird zu einem Ideal schlechthin. Ein halbes Jahrhundert später hat Isokrates das Ideal der allseitig gebildeten Rednerpersönlichkeit aufgestellt, bei der Denken, Reden und Handeln eine untrennbare Einheit bilden. Nach Auffassung des Isokrates übt der λόγος (das „Denken" und der „Gedanke", der dem Wort und der Rede zugrunde liegt) eine kultivierende Wirkung auf den ganzen Menschen aus, indem er nicht nur zum guten Reden, sondern auch zum rechten Denken und Handeln befähigt und zugleich zu einer moralischen Verhaltensweise erzieht. In hellenistischer Zeit dann bestimmten vor allem stilistische Kriterien das Rednerideal.

Als nachahmenswertes Vorbild galt der Redner, der ein bestimmtes Stilideal am vollkommensten verwirklichte. Nicht der Inhalt, sondern die Form, die glänzend-bestechende (Asianismus) oder aber die klassisch reine (Attizismus) Form, wurde bewundert. Dieses weitgehend inhaltsleere, rein formale Rednerideal kennzeichnet auch die sog. Zweite Sophistik (2.–4. Jh. n. Chr.).

In Rom hat Cato der Ältere das Rednerideal der älteren republikanischen Zeit formuliert. Er definierte den Redner als vir bonus dicendi peritus („ein guter Mann, der des Redens kundig ist") und gab die Anweisung Rem tene, verba sequentur („Die Sache halte fest, dann werden sich die Worte einstellen"). Für Cato war nicht die Redekunst am wichtigsten, sondern die Persönlichkeit des Redners, der ein guter Staatsbürger sein und moralische Qualitäten besitzen mußte, und in der Beredsamkeit war die Sachkenntnis von größerer Bedeutung als die Kunst der Worte. Eine moralisch integre Persönlichkleit, die mit Sachkenntnis zu reden versteht, das war das Rednerideal Catos. Am Ende der römischen Republik hat dann Cicero, der unbestrittene Meister der römischen Beredsamkeit, in seinem rhetorischen Hauptwerk „De oratore“ in der Gestalt des vollkommenen Redners (orator perfectus) das von ihm selbst angestrebte Ideal des allseitig gebildeten „philosophischen Redners" gezeichnet, der nicht nur die Theorie und Praxis der Beredsamkeit mit vollkommener Meisterschaft beherrscht, sondern auch ein umfassendes Allgemeinwissen besitzt, über gute Kenntnisse im römischen Recht und in der römischen Geschichte verfügt und vor allem philosophisch gebildet ist, so daß er auf der Grundlage einer allseitigen Bildung philosophische Einsicht und praktische politische Tätigkeit zu verbinden weiß. Die Gegensätze von Philosophie und Rhetorik, von theoretischer Bildung und politischer Praxis, von griechischer Wissenschaft und römischem Wirklichkeitssinn sind in diesem Rednerideal versöhnt worden. Ein Vergleich zwischen dem Rednerideal Ciceros und dem des Isokrates macht bei aller Gemeinsamkeit charakteristische Unterschiede deutlich. Ein wesentlicher Unterschied betrifft das jeweilige Verhältnis von Bildung und Redekunst. Bei Isokrates ist die rednerische Ausbildung ein Mittel zur umfassenden Persönlichkeitsbildung, wie sie sonst die Philosophie für sich in Anspruch nahm; bei Cicero ist die allgemeine und philosophische Bildung ein Mittel, den idealen praktischen Redner zu formen. Pointiert zugespitzt könnte man es so formulieren: bei Isokrates dient die Redekunst der Bildung des Menschen, bei Cicero dient die Bildung des Menschen der Redekunst. Noch deutlicher wird der Unterschied zwischen dem isokratischen und dem ciceronischen Rednerideal, wenn man die Aufgabe des Redners betrachtet. Es zeigt sich, daß der Redner bei Isokrates weitgehend die AufgabensteIlung des Philosophen, bei Cicero dagegen die des Politikers und Staatsmannes übernimmt. In der frühen Kaiserzeit dann vollzog sich in Rom eine ganz ähnliche Entwicklung wie in hellenistischer Zeit im griechischen Sprachraum. Stilistische Kriterien wurden für die Beurteilung eines Redners entscheidend. Als idealer Redner galt derjenige, der bestimmte stilistische Anforderungen am vollkommensten zu erfüllen schien. Besonders augenfällig zeigt sich dies in der literarisch-rhetorischen Bewegung des Archaismus um die Mitte des 2. Jh. n. Chr. Ihr Wortführer war Fronto, dessen Ideal eine ganz am Wortschatz und Ausdruck der vorklassischen Autoren orientierte „Wortkunst" gewesen ist.

 

Vortrag am 20.10.1989
Karl Czok (Leipzig), Ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse:


„August der Starke und die Probleme des Absolutismus“

In der Tradition der wettinischen Dynastie stehend, die eine über 800jährige kontinuierliche Herrschaft in Sachsen-Thüringen aufwies, speziell jedoch die Macht der Albertiner verkörpernd, bemühte sich August II. (der Starke) um die weitere Festigung des Absolutismus in Kursachsen und als König in Polen. Im Unterschied zu Brandenburg-Preußen waren ihm jedoch Militär und Krieg keine erstrangigen Mittel, dieses Ziel zu erreichen, sondern neben der Stärkung der sächsischen Wirtschaft und Finanzkraft sowie einer gut funktionierenden Verwaltung, die Förderung von Kunst und Kultur zum Erwerb eines europäischen Ansehens seiner Macht. Im Kampf gegen den Adel und die Stände in Kursachsen vermochte er Teilerfolge zu erringen. Denn dieser Adel verkörperte mit seiner Rittergutswirtschaft eine beachtliche Wirtschaftskraft in landwirtschaftlicher und gewerblicher Hinsicht. Das Verhältnis von Adel und Bauern bestimmte eine Grundherrschaft, die den bäuerlichen Familien ein großes Maß persönlicher Freiheit gewährte, wie es die ostelbische Gutsherrschaft nicht kannte. Die Beziehungen zwischen Adel und Bürgertum in Kursachsen waren einerseits von der notwendigen Anpassung an die wirtschaftliche Entwicklung gekennzeichnet, andererseits war der größte Teil des Adels ein strikter Gegner politischer Annäherung des Bürgertums, was im Festhalten an Adelsprivilegien, aber auch in der Verweigerung für einen ständischen Aufstieg des Bürgertums (Kampf gegen den „Neuadel“) zum Ausdruck kam.

Als Forschungsproblem bleibt die Bearbeitung der Wurzeln des aufgeklärten Absolutismus in Kursachsen, die bis in die Regierungszeit Augusts des Starken zurückreichen. Obwohl seine Gedanken und Reformen erst nach dem Siebenjährigen Krieg Verwirklichung fanden, war der bürgerliche Einfluß im sogenannten Retablissement in Sachsen gegenüber Preußen und Österreich vorherrschend. Damit wurden Voraussetzungen für die Industrielle Revolution und die bürgerliche Umwälzung geschaffen.

 

Vortrag am 9.6.1989
Joachim Hermann Scharf (Leipzig),Ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse:


„Drei philosophiebedingte Krisen der Cytologie“

Die Cytologie ist ein junger Zweig der alten – schon durch altbabylonische Texte belegten – Wissenschaft Anatomie. Wie die griechische Überlieferung zeigt, ist der Aufbau der Materie aus kleinsten Bausteinen, Atomen, durchaus denkmöglich (Leúkippos, ~ –450; Demókritos, ~ * –460, † –370). In Indien ist die Atomistik sogar noch älter, die Anfänge reichen bis zum Anfang des 6. Jh. v.u.Z. (Uddālaka Ārunis Gespräch mit seinem Sohn Śvetáketu über den immer wieder geteilten Feigenkern), spätestens um –500 gibt es eine fertige Theorie (Vardhamäna). Schon nach Uddālaka sind alle Lebewesen genau so aus Atomen aufgebaut wie die anorganische Substanz. Ein Aufbau der Lebewesen aus Zellen hingegen ist nicht a priori denkmöglich, sondern ergab sich erst empirisch, nachdem Kepler sein astronomisches Fernrohr erfunden hatte, das umgedreht sofort als Mikroskop dienen kann. Damit waren die apparativen Voraussetzungen für die Entdeckung der Zelle ab 1613 erfüllt, aber es dauerte noch 1/2 Jh., bis Hooke (1665), Grew (1672), Malpighi (1675) und van Leeuwenhoek (1702) die Entdeckung pflanzlicher und tierischer Zellen (cellulae, cells als Terminus stammt von Hooke) bekannt machten. Die Epigonen dieser vier Pioniere eiferten leider ihren Meistern nicht nach, voraussetzungsfrei zu forschen, sondern sie jagten dem Zeitgeist nach, und der Modephilosoph des Barock war eben Leibniz. Zwar wurde seine Monadologie erst lange nach dem Tode ihres Autors (durch Erdmann 1840) im Originaltext gedruckt, aber die Gedanken Leibniz’ waren den Zeitgenossen wohlbekannt, so daß es die Mikroskopiker beim Sehen granulärer Zelleinschlüsse für wichtiger fanden, darüber zu diskutieren, ob die Granula denn Leibniz’ berühmte Monaden seien, als zu versuchen, die wahre Natur der Strukturen zu erkunden. So endeten die Pionierleistungen der 2. Hälfte des 17. Jh. in der ersten philosophisch begründeten Krise der Cytologie, die fast das gesamte 18. Jh. andauerte: Zerreden und – schließlich fast vergessen. Als Meyen (1830) – er verstarb leider schon als 36jähriger –, Brown (1833) – er entdeckte u.a. die nach ihm benannte Molekularbewegung –, Schleiden (1838) und Schwann (1839) ihre epochemachenden Beobachtungen veröffentlichten, kam dies fast einer Wiederentdeckung der Zelle gleich: Durch das Monaden-Geschwafel war die Cytologie in Verruf gekommen, so daß „seriöse“ Morphologen den Gebrauch des Mikroskops abgelehnt hatten. Schwann, der wohl erfolgreichste unter diesen Vier, gab die erste – zwar noch unvollständige, aber absolut unwiderlegbare – Definition der Zelle, die aus „Zellenkern, Zelleninhalt und Zellenmembran“ besteht.

Die Zeit des Wiederaufbaues der Cytologie war aber zugleich die Zeit der spekulativen Naturphilosophie, allen voran vertreten durch Oken. Liest man Okens Ausführungen über die Entwicklung der Tiere, dann hat man oft den Eindruck, wörtliche Übersetzungen von Teilen aus Aristotélēs πεϱὶ ζῴων γενέσεως βιβλία εgeboten zu bekommen. Der zu Unrecht im Mittelalter zunächst fast vergessene große Grieche war auf Grund der Übersetzung des Ibn Rošd („Averroes“, 1126 bis 1198) ins Arabische und davon ins Lateinische in die scholastische Philosophie des Westens eingegangen und – zumindest in Auswahl – kanonisiert worden. Meyen kannte den Zellkern, hielt ihn aber für unwichtig, obwohl er die Zellvermehrung durch Zellteilung postulierte, während Brown den Nucleus für unverzichtbar hielt. Schleiden nannte den Zellkern Cytoblast und meinte, daß er in allen Zellen integrierender Bestandteil sei und daß sich aus ihm neue Zellen – also intracellulär – entwickeln können. Seinem Freund Schwann verdanken wir die Erkenntnis der prinzipiellen Gleichheit pflanzlicher und tierischer Zellen, aber die Zellvermehrung aus dem Cytoblast (Nucleus) hielt er nur für den Ausnahmefall. Statt dessen postulierte er die de nova-Genese von Zellen aus dem Cytoblastem, womit er die Intercellularsubstanz meinte. Schwann war tiefgläubiger, praktizierender Katholik, und für ihn war die kanonisierte aristoteleische Philosophie nicht anzweifelbar. Obwohl Redi schon im 17. Jh. die Urzeugung auf Grund eigener Experimente scharf abgelehnt hatte, blieb die Majorität der Gelehrten einschließlich Oken und Schwann bei der Generatio primaria (sive spontanea) stehen, von Aristotélēs einst als ῄ γένεσις αὺτόματος völlig naiv aus der „Volksweisheit“ in die Wissenschaft eingeführt. Schleidens intracelluläre Zellentstehungshypothese beruht auf der Fehlinterpretation von Mitosen, mit denen er noch nichts anfangen konnte, Schwanns Zell-Urzeugungshypothese auf der Verkennung von Zelldegenerationsphasen (wie seine nach genauester Beobachtung gezeichneten Abbildungen belegen) gepaart mit gläubigem Festhalten an der aristoteleischen Tradition. So endete die Renaissance der Cytologie durch die Berliner Schule im 4. Jahrzehnt des 19. Jh. in der zweiten philosophisch begründeten Krise der Cytologie, der Urzeugungskrise.

Die Überwindung der 2. Krise deutete sich bald an: Remak (1852) sagte nach äußerst gründlichen Eigenuntersuchungen, neue Zellen entstehen nur extracellulär und ausschließlich durch Teilung. Ihm schloß sich bald Virchow (1855) an, der als ursprünglicher Anhänger der Cytoblastem-Hypothese Schwanns nun zum engagierten Kämpfer für die Individualität der Zelle und zum Schöpfer der Cellularpathologie wurde. Sein Lehrsatz Omnis cellula a cellula steht noch heute in jedem Lehrbuch. So müssen Remak und Virchow als die frühen Vollender der schwannschen Zellenlehre anerkannt werden. Doch – 100 Jahre nach der Klärung der Zellentstehung ausschließlich durch Teilung – gab es nochmals einen unerwarteten Rückschlag: Olga B. Lepešinskaja (1950) erklärte auf Grund eigener naiver und dazu schlampig durchgeführter Versuche die gesamte Cytologie ab Remak und Virchow für „reaktionär“. Ihre neue „marxistisch-leninistische Zelltheorie“ war nichts anderes als die Wiederaufwärmung der Schwannschen Cytoblastem-Hypothese, nur prägte sie neue „materialistische“ Termini. Da Lepešinskaja zu den Günstlingen Stalins gehörte, wurde ihr Unsinn in der UdSSR und in den Satellitenstaaten zur Staatsideologie erklärt: Wer dagegen auftrat, hatte Schlimmes zu erwarten. Zur Ehre der DDR-Morphologen darf gesagt werden, daß sie (bis auf einen Außenseiter) geschlossen dagegen votierten, lange bevor die Kollegen in der UdSSR anfingen, gegen diesen Unsinn anzukämpfen. Seit dem Ende der Inquisition hatte es außer dem Rassenwahn des 3. Reiches nicht solche doktrinäre Pseudo-Naturwissenschaft gegeben wie die stalinistische Cytologie (und Genetik mit Lyssenko an der Spitze).

Es ist sicher, daß Lepešinskaja eine verspätete „Trittbrettfahrerin“ des Neovitalismus von Driesch war, obgleich sie sich verbal nicht auf Driesch stützte, noch viel weniger auf den Vater des Vitalismus: Aristotélēs. Sie war aber ohne Zweifel von Speranskijs „Neuralpathologie“ beeinflußt, die auf Rickers Relationspathologie fußte und die eindeutig ein Zweig des Neovitalismus gewesen ist. Mit Lepešinskajas Verschwinden aus der Öffentlichkeit kehrte auch unter den Morphologen der UdSSR wieder Ruhe zum Arbeiten ein, und damit war die Generatio spontanea endgültig aus der modernen Cytologie verbannt.

Max Schultze (1861) war ein durchaus erfolgreicher Forscher, aber er ignorierte oft wesentliche Erkenntnisse anderer Untersucher. Mit dem Satz: „Eine Zelle ist ein Klümpchen Protoplasma, in dessen Innerem ein Kern liegt“, ging Schultze eindeutig hinter Schwanns Zellendefinition zurück, und in der Negation der Zellmembran konnte er sich nicht genugtun. Die bereits Schwann bekannte Membran (Blutschatten) als Rest haemolysierter Erythrocyten war Schultze selbstverständlich bekannt, aber als Dogmatiker scherte er sich nicht um sie (wie auch nicht um die Naturphilosophie). Dieser völlig unphilosophisch orientierte Cytologe aber lieferte mit seiner Negation der Zellmembran gerade denjenigen das Hauptargument, die sich als Troß an Drieschs (1899) Neovitalismus anhängten und für ein weiteres halbes Jahrhundert die dritte Krise der Cytologie, den Streit um die Zellmembran aufrechterhielten. Sie wurde nicht durch ein philosophisches Postulat ausgelöst, sondern durch ein Dogma innerhalb der Naturwissenschaft, das von den Neovitalisten philosophisch bequem zu mißbrauchen war.

Dieser Streit spaltete die Cytologen – gleichgültig, ob morphologisch oder physiologisch arbeitend – in zwei Parteien. Sherrington (1897, Nobel-Preis 1932) schuf als Neurophysiologe die Membrantheorie der Synapse, Ramón y Cajal (1899, Nobel-Preis 1906) die Neuronentheorie auf der Basis der existierenden synaptischen Membran, Meyer (1899) und Overton (1901) waren die Schöpfer der Membrantheorie der Narkose. Demgegenüber war Bethe (1903) jahrzehntelang der Sprecher der Vitalisten: Er schuf die „Plastische“ Reticulum-Hypothese; Zellmembranen und Synapsen lehnte er kategorisch ab. Stöhr (1922, 1951) war einer seiner radikalsten Parteigänger, wie auch Boeke (1927, 1935), dieser aber in etwas weniger aggressiver Polemik. Als Nachzügler kamen der Neurophysiologe Schriever (1950) und der Morphologe Bauer (1943, 1953) hinzu. Selbstverständlich wurde die Problematik weltweit diskutiert, aber hier können nur Initiatoren und Wortführer erwähnt werden. Die Lösung kündigte sich seit den meisterhaft polarisationsmikroskopischen Studien an Nervenzellen von Chinn (1937, 1938) an, denen sich Scharf (195l, 1952) anschloß und zusätzlich die Histochemie einsetzte. Aber Ruhe gab es erst, nachdem Pease und Baker (1951) sowie Hossak und Wyburn (1954) die Zellmembran (zunächst der Nervenzelle) mit dem Elektronenmikroskop zeigen konnten. Nun mußte der Neovitalismus kapitulieren und definitiv realistischen Anschauungen das Feld überlassen. Das Ende dieser dritten philosophisch bedingten Krise bestätigte nach 115 Jahren Schwanns Postulat einer real existierenden Zellmembran auch tierischer Zellen.

 

Vortrag am 9.6.1989
Albrecht Neubert Leipzig), Ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse


„Die Wörter in der Übersetzung“

Die Unübersetzbarkeit der Wörter einer Sprache ist dem Übersetzer seit altersher bekannt. Dennoch beweist die Praxis des Übersetzens in Geschichte und Gegenwart immer wieder, daß das unabdingbare Interesse der Menschen und Völker an Übersetzungen erfolgreich befriedigt werden kann. Dieser scheinbare Widerspruch stellt die Übersetzungswissenschaft vor die Aufgabe, die Prinzipien und Verfahren aufzudecken, und zu erklären, die Translation und insbesondere ihre lexikalische Implementierung ermöglichen.

Am Beispiel der Übertragung einer Erzählung des amerikanischen Gegenwartsautors John Updike Slippage wird anschaulich beschrieben, daß nicht die Wörter der englischen Sprache übersetzt zu werden brauchen, sondern die Worte des Autors von den Worten des Übersetzers neu geschaffen werden. Dadurch gelingt es, die quellen sprachliche Systemgebundenheit der lexikalischen Mittel des Originals zu überwinden und die Wahl der zielsprachlichen Wortschatzeinheiten auf für den Leser adäquate Weise zu treffen. Beim Übersetzen komme es also nicht darauf an „Wortgleichungen“ aufzustellen, sondern Texte zu übertragen. Wörter funktionieren in Texten, und diese Funktionen können, ja müssen in der Übersetzung von in der Regel „ganz anderen“ Wörtern übernommen werden, als sie das zweisprachige Wörterbuch vorzuschlagen scheint.

Bei diesem textgesteuerten Rekordierungs- oder Rekonstruktionsprozeß sind vielfältige Strategien im Spiel, die sich in der Übersetzungspraxis bewährt haben. Es werden an hand einer Fülle von Beispielen die hauptsächlichsten Übertragungsverfahren dargestellt und erläutert (grammatische Transpositionen und lexikalische Modulationen). Zugleich wird satzübergreifenden sowie im Text vernetzten lexikalischen Beziehungen große Aufmerksamkeit gewidmet (Textonomien, Textwortnetzte). Besondere Beachtung findet die Übersetzung von Titeln, an denen die Rolle der Übersetzung globaler Bedeutungen systematisch illustriert wird.

Die Arbeit gibt einen Einblick in den jüngsten Stand der Übersetzungswissenschaft. Sie vereint theoretische Übersicht mit detaillierter empirischer Beweisführung. Die Problematik der Behandlung des Wortschatzes in der Übersetzung wird durch die originellen Einsichten des Autors, gestützt auf einen repräsentativen Literaturvergleich, einer wissenschaftlich überzeugenden und translationspraktisch effektiven Lösung zugeführt. Zusätzlich erfährt der Platz lexikalischer Mittel in einem literarischen Kunstwerk eine außerordentlich gründliche Interpretation.

 

Vortrag am 5.5.1989
Günter Haase (Leipzig), Ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse:


„Ansätze und Verfahren der Landschaftsdiagnose“

Die Landschaftsforschung hat in den letzten Jahren ein brauchbares und bereits erprobtes Konzept für die Landschaftsdiagnose und die darauf basierende Landschaftsbehandlung („landscape management“) entwickelt. Landschaftsdiagnose beruht auf den Ergebnissen der Landschaftsanalyse, die der Ermittlung der Landschaftsstruktur nach Ausstattung, Raumstruktur und Zeitverhalten dient. Die Landschaftsdiagnose selbst verfolgt zweck- und zielgerichtet die Ermittlung der "Leistungen" der Landschaft für verschiedenartige gesellschaftliche Anforderungen sowie von Kriterien (Grenzwerte, Schwellenwerte) zur Erhaltung der Naturbedingungen.

Die Landschaftsdiagnose bereitet über die gesellschaftlich-funktionale Bewertung von Landschaftsstrukturen Entscheidungsalternativen für die künftige Gestaltung der gesellschaftlichen Reproduktion vor. Landschaftsdiagnose ist daher eine zielgerichtete Form der Landschaftssynthese und zugleich die Voraussetzung für eine Beurteilung der Entwicklungstendenzen und Entwicklungsmöglichkeiten, also eine Landschaftsprognose. Daraus leiten sich Entscheidungen für die Vorbereitung und Durchführung von landeskulturellen Maßnahmen zum Schutz und zur Gestaltung der Landschaft im Zusammenhang mit ihrer Inanspruchnahme ab. 

Vier Aufgabengebiete haben sich dafür herausgebildet:

  1. Landschaftsplanung: Vorbereitung, territoriale Einordnung und Sicherung von landeskulturellen Maßnahmen;
  2. Landschaftspflege: Konservierende und stabilisierende Maßnahmen hinsichtlich der Naturbedingungen;
  3. Landschaftssteuerung und -kontrolle: Gesellschaftlich zweckmäßige Prozeßführung bei der Nutzung der landschaftlichen Dynamik;
  4. Landschaftsgestaltung: Baulich-technische, konstruktive Veränderung der Landschaftsausstattung und ihrer Eigenschaften.

Grundlegend für die Methodik der Landschaftsdiagnose sind die nachfolgend genannten vier Analysen und Bewertungen:

  1. Analyse der gesellschaftlichen Funktionen der Landschaft in Gegenwart und Zukunft.
  2. Beurteilung der geosynergetisch-ökologischen Eigenschaften der Landschaft in bezug auf die gesellschaftlichen Anforderungen und Funktionen.
  3. Analyse der Wirkungsbeziehungen in der Landschaft, einschließlich Neben- und Spätwirkungen sowie zu erwartende Wirkungen durch Nutzungsänderungen.
  4. Gesellschaftliche (ökonomische und außerökonomische) Bewertung gegenwärtiger und geplanter Nutzungsformen. Beurteilung von Konflikten bei Mehrfachnutzung und Mehrfachbeanspruchung, Ableitung von Entscheidungsvorschlägen zur Lösung gestellter Aufgaben.

Eine nach diesem Mehrstufen-Verfahren durchgeführte Landschaftsdiagnose ist von genereller Bedeutung und deshalb die geeignete Bezugsbasis für landschaftsprognostische Aussagen. Die Interpretation von Ergebnissen der Naturraumerkundung ordnet sich in dieses Konzept der Landschaftsdiagnose und -prognose voll ein.

Die Beurteilung geosynergetisch-ökologischer Eigenschaften der Landschaft im Hinblick auf gesellschaftliche Funktionen beruht auf der Untersuchung räumlicher Strukturen und des Zeitverhaltens landschaftlicher Objekte. Aussagen über Arealstrukturen, Prozesse, Zeitverhalten und die Kopplung von zeitlicher und räumlicher Dynamik wird mit wesentlichen landschaftsökologischen Parametern verbunden, wie Persistenz, Stabilität, Elastizität, Störungen, Diversität, Sensitivität, Merkmale des Fließgleichgewichts u.a.

Die Qualifizierung von Theorie und Methodik der Landschaftsdiagnose erfordert eine zweckgerichtete Auswertung des erreichten Kenntnisstandes in der Naturraumanalyse, insbesondere die Ableitung von Verallgemeinerungen, die mit Anforderungen der gesellschaftlichen Nutzung in Zusammenhang gebracht werden, wie Änderungsraten, Eintrittswahrscheinlichkeiten, Wirkungsketten, Verhaltens- und Bemessungsnormen u.v.a. Bei der Analyse des Zeitverhaltens des Naturraums sind beispielsweise die Merkmale der Veränderlichkeit landschaftlicher Parameter mit „charakteristischen Zeiten“ von Nutzungsformen zu verbinden. Zwischen naturgesetzlichen Zeitabschnitten der Landschaftsentwicklung (Sukzessionen, Bodenentwicklung) und den gesellschaftlichen Zeitintervallen in der Nutzung gibt es häufig sehr erhebliche Unterschiede.

So wesentlich naturwissenschaftliche Erkenntnisse für die Landschaftsdiagnose sind, leiten sich unmittelbar planungs- und projektierungsrelevante Aussagen daraus nicht ab. Dazu bedarf es einer Bewertung der Naturzusammenhänge und technischen Prozesse in bezug auf gesellschaftliche Anforderungen.

Die zweite Phase der Landschaftsdiagnose ist gekennzeichnet durch die Verbindung der naturwissenschaftlichen Ergebnisse mit der Kenntnis vorhandener und beabsichtigter Nutzungen; die zwischen Naturausstattung und Nutzungsform bestehenden gesellschaftlich-funktionalen Verflechtungen, ihre Regulations- und Reproduktionsbeziehungen sind Gegenstand der Untersuchungen. Die gesellschaftlich relevanten Wirkungen erwachsen z.B. aus Funktion-Lage-Beziehungen, Nachbarschaftsverhalten von aneinander grenzenden Nutzflächen, Funktionsmischung von Nutzflächengefügen, Beziehungen zur Naturraumstruktur u.a. Merkmale der strukturellen Diversität, der Dauer und Aufeinanderfolge von Nutzungsformen, der gesellschaftlichen Aufwendungen für die Reproduktion der Natursysteme, der Substitution von Stoffen und Prozessen dienen dafür als Kriterien.

Die Beziehungen zwischen Naturausstattung und deren gesellschaftlicher Nutzung, die Bewertung der Eignung von Merkmalen der Naturausstattung für bestimmte Nutzungsformen und – quasi im Sinne einer Rückkopplung – nutzungsbedingte Einflüsse auf den Naturraum sind Gegenstand der Interpretation von Naturraumtypen-Karten, was anhand zahlreicher Beispiele ausführlich dargestellt wird.

 

Vortrag am 5.5.1989
Rudolf Růžička (Leipzig), Ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse:


„Sprachlicher Überbau im Umbau“

Auf der Grundlage bekannter Prozesse der Verbalisierung kognitiver Strukturen werden allgemeine und spezielle Mechanismen und Techniken des Sprachgebrauchs analysiert, die direkt oder indirekt auf ideologische Einstellungen oder ihrerseits auf entsprechende Sprach verwendung einzuwirken angelegt sind. Zu solchen Mechanismen gehört z.B. die Gewöhnung oder Konditionierung, spezielle sprachliche Ausdrücke zu verwenden und zu kombinieren, die als Erkennungssignale ideologisch Gleichgesinnter oder solcher, die sich als solche hinstellen oder gebärden, dienen können. Die Auswahl bestimmter sprachlicher Ausdrücke kann Gruppenzugehörigkeit oder Distanzierung erkennen lassen. Die Praktiken der Indoktrination sind verhüllter und subtiler, wenn „Brainwashing under freedom“ (Chomsky) vor sich geht. All diese Verfahren und Techniken wird kein moralischer Kodex redlichen Sprachgebrauchs, keine „Strafprozeßordnung“ des Sprachgebrauchs aus der Welt schaffen.

 

Vortrag am 14.4.1989, Öffentliche Gesamtsitzung
Albrecht Gläser (Halle-Wittenberg), Ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse:


„Das Mammakarzinom – eine Herausforderung“

Jährlich erkranken in der DDR 6500 Frauen an Mammakarzinom – jedes 15. Mädchen wird im Laufe des Lebens davon betroffen sein –und 2500 Frauen sterben jährlich an diesem Organkrebs. Trotz aller Bemühungen wurden nur geringe Fortschritte in der früheren Erkennung erzielt. Es vergehen 5–20 Jahre bis ein Tumor eine Größe von 1 cm Durchmesser erreicht und insgesamt 25 bis 30 Jahre bis eine Frau unbehandelt an Mammakarzinom stirbt. Bereits mikroskopisch kleine Tumoren streuen ständig Krebszellen in den Organismus aus, die aber nur ausnahmsweise zu Fernmetastasen auswachsen. Die diagnostischen Bemühungen gehen dahin, möglichst Krebsvorstufen und Frühfälle zu erfassen. Die Deutung des Mammakarzinoms bereits in frühesten Stadien als systemische Erkrankung bestimmt das therapeutische Procedere. Metastasen in örtlichen Lymphknoten zeigen ein fortgeschrittenes Stadium an. Durch locoregionale Maßnahmen, Operation und Bestrahlung, kann der Primärtumor entfernt und die Entwicklung von örtlichen Rezidiven vermieden werden. Dies schließt die Gefahr der Entwicklung von Fernmetastasen aber nicht aus.

Auf solchen Überlegungen basiert der Versuch, unter bestimmten Bedingungen durch Tumorexstirpation brusterhaltend zu operieren, unter gleichzeitigem Einsatz von Chemound Hormontherapie und Strahlentherapie. Diagnostik und Therapie des Mammakarzinoms erfordern eine interdisziplinäre Zusammenarbeit und eine entsprechende technische Ausrüstung, woraus die Forderung nach Schaffung von Behandlungszentren resultiert.

 

Vortrag am 3.3.1989
Herbert Jordan (Leipzig), Ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse:


„Zum strategischen und taktischen Handlungsspielraum der Physiotherapie“

Ausgehend von Diskussionen, die gegenwärtig zu den Begriffen „Schulmedizin“ und „Erfahrungsheilkunde“ geführt werden, wird eine angemessene erläuternde Darstellung der „Physiotherapiemittel“ gegeben, wie sie derzeit im System der medizinischen Betreuung der DDR in Gebrauch sind. Die mit ihnen auslösbaren Beeinflussungsmöglichkeiten auf einen kranken Organismus werden prinzipiell angesprochen und beispielhaft erörtert. Die serienmäßige Anwendung solcher Therapiemittel läßt typische Antwortleistungen reaktiver Art des Organismus im Sinne der Entwicklung funktioneller und/oder trophisch-plastischer Adaptatbildungen auftreten. Es wird weiterhin dargelegt, daß und inwieweit physiotherapeutische Behandlungsmaßnahmen zu einer ganzheitlich orientierten Medizin gehören. Daraus läßt sich ein „komplementaristisches“ Therapiekonzept der Physiotherapie entwickeln, das als Grundmuster der ärztlichen Behandlung überhaupt bewertet werden kann. Die Physiotherapie kann demzufolge in keiner wirklich nach einem zeitlichen und pathischen Ganzheitskonzept konzipierten Therapieplanung fehlen. Als neu wird dabei der Begriff einer „quietiven Therapie“ eingeführt. Herausgestellt wird die Tatsache, daß sie Physiotherapie zwar von einem Facharzt verordnet und kontrolliert wird, ihm aber auch ein entsprechend geschulter und mit dem ärztlichen Ziel völlig vertrauter mittlerer medizinischer Fachkader, der Physiotherapeut, zugeordnet sein muß, wenn ein voll befriedigendes Resultat der Therapie erreicht werden soll.

Abschließend werden die gesundheitsorganisatorischen und sozialmedizinischen Einsatzmöglichkeiten und -formen besprochen, wie sie sich in der Praxis ergeben und bewährt haben.

 

Vortrag am 3.3.1989
Werner Hiebsch (Jena), Ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse:


„Was könnte Psychologie gesellschaftlich bewirken?“

Die Kommunikationsform des Gesprächs (speziell vom Typ des Beratens, Problemlösens, Konfliktlösens) war bisher kein sehr häufiger Untersuchungsgegenstand der Sozialpsychologie. Die Hauptursache dafür liegt in der mehr kognitiven und oft „individualistischen“ Orientierung der gegenwärtigen Sozialpsychologie. Das verwundert insofern, als das Phänomen der „sozialen Interaktion“, also der gemeinsamen Handlung von mindestens zwei Menschen in ihrem Zusammenleben und -wirken, das eigentliche Problemfeld der Sozialpsychologie ist. Es liegt nahe, die Kommunikation zwischen Menschen in derselben Weise zu beschreiben und zu analysieren, wie das angesichts sozialer Interaktionen üblich geworden ist (vgl. Hiebsch et al., 1986, S. 14ff.).

Wir berichten hier über die ersten Ansätze einer solchen Untersuchung. Dafür haben wir eine ganze Reihe von Gesprächen, vor allem in authentischen Beratungssituationen (Rehabilitations-Berufsberatung, Erziehungsberatung, Rechtsberatung u.ä.) aufgezeichnet und verschriftet. Ferner erhoben wir entsprechende Protokolle in (halbauthentischen) Problemgesprächen, die in der Form eines Rollenspiels angeregt wurden.

Ausgewertet wurden die Gespräche im Hinblick auf die Realisation der Merkmale von Interaktionen, nämlich der internen und der externen Kontingenz. „Interne Kontingenz“ meint den inhaltlichen Zusammenhang der Gesprächsturns, „externe Kontingenz“ den äußerlich wahrnehmbaren, sozusagen mehr formalen Zusammenhang der Gesprächspartner und Gesprächsteile (der natürlich von der internen K. – im wesentlichen – bestimmt wird), also die Art und Weise, wie sich die Partner aufeinander orientieren („Koorientierung“), wie sie ihre Turns in eine geordnete zeitliche Abfolge bringen („Koordinierung“), und wie sie die gegenseitige Abhängigkeit ihrer Turns herstellen und mit Blick auf Gesprächsgegenstand und -ziel gewährleisten („Interdependenz“).

Am Beispiel eines Gesprächs aus der Rehabilitations-Berufsberatung, das ausführlicher analysiert wurde, und mehrerer Passagen aus anderen Beratungskommunikationen wird demonstriert, in welcher Weise diese Analyse möglich und – vielleicht – nützlich ist. Die sich daraus ergebenden Fragen, besonders das dabei auftretende Kardinalproblem, wie aus dem manifesten Text auf die psychischen Regulationsmechanismen geschlossen werden kann, werden am Schluß diskutiert.

 

Vortrag am 10.2.1989
Werner Ries (Leipzig), Ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse:


„Adipositas – Reflexionen einer Krankheit“

Im Vergleich zu dem großen Interesse, das Krankheiten und die von ihnen ausgehenden Bedrohungen in der Öffentlichkeit auslösen, finden sich in Literatur und Kunst relativ selten entsprechende Betrachtungen und Darstellungen. Eine Ausnahme bildet die Adipositas. Man versteht darunter ein über dem Optimalgewicht liegendes Körpergewicht, das in erster Linie durch eine Vermehrung der Fettanteile bedingt ist (Synonyma: Fettsucht, Fettleibigkeit). Die Adipositas zählt in den hochentwickelten Staaten zu den häufigsten Krankheiten, wie zahlreiche Statistiken belegen. In der DDR müssen etwa 20% der Männer, 40% der Frauen und 15% der Kinder als übergewichtig angesehen werden. Anliegen des Vortrages ist es, Reflexionen der Adipositas in Literatur und bildender Kunst aufzuspüren, aber auch Bezüge zu historischen Gestalten herzustellen. Nicht zuletzt wird auf die Reflexionen der Adipositas in der Medizin eingegangen.

Eindrucksvolle Betrachtungen der Adipositas finden sich in der englischen Literatur. Dazu gehört der „Falstaff“ von William Shakespeare, der sowohl im Königsdrama „Heinrich IV.“ als auch in den„Lustigen Weibern von Windsor“ eine dominierende Rolle spielt. Seine Gestalt mit dem abnehmenden Bein und dem zunehmenden Bauch ist als Falstaff-Typ mit ungünstiger Prognose von der Medizin übernommen worden. Auch in die Opernliteratur ist der den Freuden des Lebens besonders zugeneigte Ritter eingegangen, allerdings bei Otto Nicolai und Giuseppe Verdi mit deutlichen Nuancierungen. – Eine andere Gestalt aus der englischen Literatur, der „feiste Bursche Joe“aus den „Pickwickiern“ von Charles Dickens, wurde mit seiner typischen Symptomatologie, vor allem der permanenten Schlafsucht, von der Medizin übernommen. Derartige Adipöse werden als Pickwick-Syndrom bezeichnet und in zahlreichen Kasuistiken immer wieder beschrieben.

In der bildenden Kunst reichen die Darstellungen Übergewichtiger in Form der sogenannten Venusstatuetten bis in das Jungpaläolithikum zurück. Derartige Figuren wurden in allen Erdteilen ausgegraben und sind als Symbol von Fruchtbarkeit und Mutterschaft aufzufassen. Das klassische griechische Schönheitsideal, etwa in Gestalt der Aphrodite von Melos, zeichnet sich nicht, wie bisweilen behauptet, durch extreme Schlankheit aus, sondern beruht auf der Harmonie der Proportionen. Die Adipösen gehörten auch in der Antike zum Alltag und mußten sich mit den Problemen ihres Übergewichts auseinandersetzen. – Die Frauengestalten des Peter Paul Rubens sind in ihrer Ästhetik umstritten. Sie entsprachen aber sowohl dem Schönheitsideal ihrer Zeit als auch des Malers. Die Betonung der unteren Körperpartien hat ihre Entsprechung im Rubens- Typ der Medizin gefunden. Auf Zusammenhänge zwischen Tafelfreuden und Übergewicht weisen andere Bilder der flämischen und niederländischen Malerei.

In der Geschichte begegnen wir zahlreichen adipösen Herrschern, angefangen bei einigen römischen Imperatoren. Manche Monarchen gingen als „der Dicke“ in die Geschichte ein, der sächsische Kurfürst und spätere König August II.  wurde wegen seiner ungewöhnlichen Kraft dagegen als „der Starke“ bezeichnet. Das Übergewicht der gekrönten Häupter wurde von den Völkern offenbar wie ein Statussymbol betrachtet und hat ihrer Popularität oft keinen Abbruch getan, wie am Beispiel von Maria Theresia oder Viktoria von England gezeigt werden kann. Hinweise auf besonderes lukullische Speisefolgen an den Höfen ergänzen die Ausführungen.

Ferner wird auf die Reflexionen der Adipositas in der Medizin eingegangen. Die Krankheit wird von vielen Ärzten als Crux medicorum betrachtet, wofür verschiedene Gründe ausschlaggebend sind. Dazu gehören Unklarheiten über die Entstehung eines Übergewichts und fehlende Erfolge in der Therapie. Die Tatsache, daß eine Gewichtszunahme entweder durch Überernährung oder durch Bewegungsarmut entsteht, sagt noch nichts über die Ursache dieser Verhaltensweisen aus. Überzeugende Beweise für die Gründe dieser Verhaltensweisen konnten bisher nicht erbracht werden, abgesehen von einer meist vorhandenen familiären Belastung. – Die im Prinzip richtige und bei exakter Kontrolle auch erfolgreiche Therapie mit Reduktionskostformen zählt auf lange Sicht zu den krassesten Versagern einer internistischen Behandlung. Gleiches gilt für andere Behandlungsarten, wie etwa die Gruppentherapie oder die chirurgischen Maßnahmen. – Wenn auch am Risikocharakter der Adipositas durch bedrohliche Folgekrankheiten nicht gezweifelt werden kann, so liegen doch bisher keine gesicherten Angaben über das Mortalitätsrisiko vor. Nach neueren Berichten kommt es erst bei einem Übergewicht von + 30% über dem Optimalgewicht zu einer Verkürzung der Lebenserwartung .

Aus psychologischer Sicht sind zwei Typen der Adipositas zu unterscheiden, die „passiven“ und die „aktiven“, wofür entsprechende Charakteristika beschrieben werden. Die angeführten zahlreichen Reflexionen der Adipositas in den verschiedensten Bereichen von Kunst und Wissenschaft erklären sich mit der einfachen Veranschaulichung und Gegenständlichkeit der Krankheit sowie ihrer Häufigkeit. Vor einer abwertenden Stellungnahme wird gewarnt, da die Adipositas für viele Menschen nicht nur ein Schönheitsfehler oder eine unbedeutende Krankheit darstellt, sondern ein schweres Schicksal.

 

Vortrag am 10.2.1989
Rigobert Günther (Leipzig), Ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse:


„Klassen, Stände und Schichten in der antiken Gesellschaftsordnung. Neue theoretisch-methodologische Untersuchungen“

Der Klassenbegriff ist für den Historiker ein unentbehrliches Mittel, wenn er in seiner jeweiligen Historizität verstanden und definiert wird, wenn er also stets in seine konkrete historische Umwelt der jeweiligen Gesellschaftsformation eingebunden wird. Der Klassenbegriff – zwar eine neuzeitliche wissenschaftliche Abstraktion – ist auch dann auf die frühen Klassengesellschaften anwendbar, wenn es gilt, große Personengruppen in ihrer geschichtlichen Entwicklung zu erfassen, die durch ein relativ stabiles soziales Verhalten gekennzeichnet sind und sich durch andere soziale Termini nicht adäquat beschreiben lassen.

Gegenwärtig ist die internationale Diskussion über die Anwendbarkeit des Klassenbegriffs auf die antike Geschichte in großer Bewegung, und es werden viele neue Fragen gestellt, und manche frühere Ergebnisse werden in Frage gestellt, – sowohl von marxistischen wie von nichtmarxistischen Historikern. Für den Althistoriker, der sich mit der Geschichte der Antike beschäftigt, ergeben sich besondere theoretische Probleme, da es z.B. im Römischen Reich niemals eine wirtschaftliche und soziale Einheit gegeben hat; es gab auch keine einheitliche Klassenstruktur.

Definiert man die Klassenstruktur der antiken Gesellschaftsordnung als eine ständische Klassenstruktur, so ergeben sich methodologische Schwierigkeiten, da es z.B. im antiken Griechenland keine rechtlich abgestuften Stände in den Stadtstaaten (vielleicht mit Ausnahme Spartas) gibt und daß im Römischen Reich große Teile der Bürgerschaft nicht in Ständen erfaßt wurden. Der Standesbegriff wurde im Römischen Reich im wesentlichen großen Personengruppen der Herrschenden vorbehalten (etwa die Stände der Senatsaristokratie, der Ritterschaft und der Munizipalaristokratie). Darunter zerfließen dann die sozialen Begriffe, sind sehr uneinheitlich und zeitlich verschieden.

Klasse und Stand fallen in der Antike weitgehend nicht zusammen, zu einer Klasse können durchaus auch Menschen unterschiedlicher sozialer Position gehören. Die sehr vielfältigen Eigentums- und Besitzverhältnisse und sozialen Beziehungen der Antike lassen deutlich erkennen, daß die Klassenstruktur der Antike keineswegs auf etwa zwei Klassen (Besitzer und Nichtbesitzer der Produktionsmittel) begrenzt sein kann. Der jeweilige Standort großer Personengruppen in der gesellschaftlichen Produktion und Distribution war bedeutend differenzierter in den vorkapitalistischen Klassengesellschaften als etwa im Kapitalismus und läßt sich nicht auf Eigentümer und Nichteigentümer von Produktionsmitteln begrenzen. Die Vereinfachung der Klassengegensätze vollzog sich erst in der Epoche des Kapitalismus.

Klassen stellen historisch objektive Größen dar, unabhängig davon, ob sich die Klassen dieser Tatsache bewußt sind oder nicht. Klassenorganisation und Klassenbewußtsein sind Merkmale moderner Klassen, wie sie sich seit dem Niedergang und Untergang des Feudalismus entwickelten. Typisch für die antiken Klassenstrukturen sind regionale und temporale Unterschiede in der Bildung und Entwicklung von Klassen, etwa im Vergleich der antiken griechischen Stadtstaaten zum Römischen Imperium, aber auch im Römischen Imperium selbst. Die Klassen der frühen römischen Republik sind andere als im Kaiserreich, und die antike Klassenstruktur im römischen Ägypten und Syrien entsprach nicht derjenigen im römischen Italien oder Gallien. Die Klassenverhältnisse unterscheiden sich im Osten des Römischen Reiches namentlich in den Gebieten, die vorher zu den hellenistischen Königreichen gehörten, von den Territorien, die im Westen des Reiches lagen und die vor der römischen Eroberung noch keine eigene Klassengesellschaft gekannt hatten. In den östlichen Provinzen, in Ägypten, in Syrien und in Kleinasien hatten sich auch unter römischer Herrschaft Reste der altorientalischen (patriarchalischen) Klassengesellschaft erhalten, die sich auch auf die Klassenentwicklung in römischer Zeit auswirkten. Auch war das soziale Gewicht einzelner Klassen und Schichten im Gesamtverband des Römischen Reiches nicht einheitlich.

Eine auf Sklaverei beruhende Klassenstruktur dominierte etwa vom 2. Jahrhundert v.u.Z. bis etwa zum 2. Jahrhundert u.Z. nur in Teilen Italiens, Griechenlands, im ehemals karthagischen Nordafrika, im äußersten Süden Galliens (in der Provence) und in Städten und städtischen Territorien Spaniens nahe der Mittelmeerküste. Daneben existierten vielfältige traditionelle soziale Beziehungen, die oft noch aus vorrömischer Zeit stammten, und die von antiken Autoren selbst als zwischen Sklaven und Freien stehend eingestuft wurden. Darüber hinaus stimmen Klasse und Stand der Sklaven nicht überein.

Die Spätantike ist wiederum dadurch gekennzeichnet, daß sich die antiken Klassenstrukturen zu verwischen beginnen, daß sie unscharf werden. In dieser Übergangsepoche dominiert eine außerordentliche Dynamik, soziale Mobilität und zugleich eine große Instabilität und Kurzlebigkeit sozialer Strukturen und Institutionen, aus denen letztlich dann die Grundstrukturen des Feudalismus hervorgehen.

 

Vortrag am 13.1.1989
Artur Lösche (Leipzig), Ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse:


„Molekulare Ordnung und Orientierung, insbesondere bei Flüssigkristallen“

Im Vortrag sollte gezeigt werden, wie man durch systematische Betrachtung von Gitterstrukturen und Symmetrien Voraussetzungen für Systeme mit neuen Kombinationen von Eigenschaften gewinnen kann.

Einleitend wird auf bekannte Struktur-Eigenschafts-Beziehungen hingewiesen: Beim Kohlenstoff hängt die Festigkeit des Diamant- bzw. des Graphitgitters vom Bindungszustand ab. Die polare Bindung wird am Na–Cl-Gitter demonstriert. Bei Metallen nimmt man ein Elektronengas an, das sich im Gitter der positiven Atomreste nach den Gesetzen der Quantenstatistik bewegt. Bei Molekülgittern genügt es nicht, die Lage der Molekülschwerpunkte anzugeben, die Orientierung der Moleküle spielt eine entscheidende Rolle. Obwohl die zwischenmolekularen Kräfte vergleichsweise schwach sind, können sie große Wirkungen haben, wie an der Anomalie des Wassers gezeigt wird.

Bei Flüssigkristallen sind Ordnung, d.h. die Lage der Molekülschwerpunkte, und Orientierung, also die Ausrichtung ausgezeichneter Molekülachsen, nicht mehr streng miteinander gekoppelt. Das hat zur Folge, daß beim Übergang vom isotrop-flüssigen in den kristallinen Zustand mehrere Zwischenzustände, mesomorphe Phasen, auftreten. In der nematischen Phase sind z.B. die Molekülschwerpunkte statistisch verteilt, also ungeordnet, während die stabförmigen Moleküle annähernd parallel zueinander orientiert sind. Bei den smektischen Phasen liegen die Schwerpunkte in Schichtebenen, wobei die Ordnung bzw. Unordnung innerhalb der Schichtebene und die Orientierung der Moleküle zu diesen Ebenen zu unterschiedlichen Phasen führen. Das wird an mehreren Beispielen gezeigt und daraus das besondere Verhalten der blauen Phasen erklärt, die kubische Kristalle bilden, die nicht doppelbrechend sind, aber die Polarisationsebene des Lichtes drehen.

Durch äußere elektrische oder magnetische Felder oder durch Wandkräfte orientierte nematische Phasen haben optische Eigenschaften, die zur Entwicklung von Anzeigeelementen führten. Dabei wird im letzten Fall die Orientierung der Moleküle durch ein genügend starkes elektrisches Feld zerstört: Frederiks-Übergang.

Beim Übergang nematisch – kristallin wurden optisch und mit Hilfe der NMR isotropflüssige Anteile gefunden, die bestimmte Eigenschaften dieses Überganges erklären. Untersuchungen an Molekülen mit Seitenketten, das mesogene Verhalten scheibenförmiger Moleküle und polymerer Flüssigkristalle festigen die gewonnenen Vorstellungen über die Voraussetzungen zur Bildung flüssig-kristalliner Phasen.

Nach allen Erfahrungen ändert die Umkehr eines Moleküls (um 180°) die Eigenschaften normaler mesogener Phasen nicht. Daraus könnte man schließen, daß bei der Bildung flüssig-kristalliner Phasen eine dielektrische Polarisation nicht möglich ist. Mit Hilfe elementarer Symmetriebetrachtungen, die im Vortrag näher erläutert werden, kann man zeigen, daß bei chiralen Sm – C-Phasen eine spontane Polarisation auftreten kann, wenn Dipolmomente senkrecht zur Molekülachse vorhanden sind. Die Helixstruktur kann also bei Sm – C-Phasen zur Ferroelektrizität führen, die sich aber wegen der Chiralität über größere Entfernungen ausmittelt. In dünnen Schichten von etwa 10-5 m ist sie jedoch wirksam und kann zwischen zwei optischen Polarisatoren als Lichtschalter verwendet werden. Die Umschaltzeiten darauf beruhender Anzeigeelemente liegen bei 10-6 s, sind also viel kürzer als bei nematischen Zellen. Das würde ihren Einsatz zur Darstellung bewegter Bilder ermöglichen.

 

Vortrag am 13.1.1989
Rudolf Große (Leipzig), Ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse:


„Das Generationenproblem in der Sprachentwicklung“

Die häufige, auch weithin metonymische Verwendung des Wortes Generation veranlaßt erneute Beschäftigung mit diesem Begriff, wie sie auch in der Literaturwissenschaft (H. Richter) und in der Soziologie (H. Fogt) eingesetzt hat. Für den Linguisten wird diese Problematik relevant, wenn er die historischen Aspekte seines Gegenstandes berücksichtigt; dabei wird der Begriff der Generation oft ganz unreflektiert verwendet. Sowohl für den historischen Ablauf sprachlicher Veränderungen, wo die Folge der Generationen betrachtet wird, als auch für das Aufwachsen des Kindes, wo beim Spracherwerb das Nebeneinander von Generationen zu beachten ist, wird der einfache biologische Begriff des Eltern-KindVerhältnisses zugrunde gelegt.

Doch selbst die internen Strukturanalysen kommen mit ihren Konzeptionen über Sprachveränderung an Knotenpunkte, die (ausgesprochen oder nicht) sozial und pragmatisch bestimmt sind. Sowohl die discovery procedures in der behavioristisch-distributionalistischen Grammatikanalyse (Sapir, Bloomfield, Hockett) als auch der language acquisition device der generativ-transformationellen Sprachtheorie (Chomsky, Lenneberg, Klima) erfordern eine zweite Stufe (den shaping process bzw. die Innovationen zur Differenzierung der Kompetenz). Diese umfaßt die Phase der Anpassung des Sprachverhaltens beim heranwachsenden Kind und ist damit soziolinguistisch zu erklären. Das wird auch versucht mit der Einführung von Adaptionsregeln und mit der Unterscheidung von abductive change und deductive change (so H. Andersen, vgl. auch das language acquisition support system von J. Bruner). Die Natürliche Phonologie und Morphologie eruieren nach der Markiertheitskonzeption Instabilitätsparameter eines Sprachzustandes und können damit aus inneren Widersprüchen des Sprachsystems Entwicklungstendenzen ableiten; für Verbreitung und Durchsetzung sprachlicher Neuerungen fehlt jedoch eine Erklärung dieser Veränderungen als Sozialisationsprozesse. Aber auch soziolinguistische Beschreibungen des Sprachwandels problematisieren den Generationsbegriff nicht (Labov, Weinreich). Neben der „begrenzten absoluten Kontinuität, gewährleistet durch die Lebensdauer des menschlichen Organismus“ wird eine „Stafettenkontinuität“ gesehen, d.h. „Weiterführung der Kommunikationstätigkeit durch Aufeinanderfolge von Generationen“ (H. Lüdtke).

Diese „Stafettenkontinuität“ kann bei der Sprachenentwicklung nicht auf die biologische Geschlechterfolge reduziert werden. Selbst in der prähistorischen Großfamilie und in den Gentilstämmen beschränkte sich der Spracherwerb des Kindes nicht auf das Eltern-KindVerhältnis; die Bindungen unter den Gleichaltrigen setzten Maßstäbe, ohne daß Generationsgegensätze daraus entstanden (W. Krauß). Im Mittelalter bestimmten Nachbarschaft, Dorfgemeinschaft und städtische Kommune die tägliche Kommunikation. Erst der Manufakturkapitalismus schaffte dem Individuum so viel Freiraum, daß sich ein Generationsbewußtsein entwickeln konnte; erst seit Renaissance und Humanismus kann es Generationsprobleme geben (W. Krauß). Heute gewinnen neben dem Elternhaus Kinderkrippe und Kindergarten eine wachsende Bedeutung; peer groups schaffen für ihren Umgang charakteristische Formen. Schule und Berufsausbildung ordnen die Jugendlichen in größere soziale Zusammenhänge ein, für die umfassendere Normen gelten. Zweifellos vollziehen sich diese Sozialisationsprozesse zu einem großen Teil kontinuierlich; denn es treten ja in quantitativer und qualitativer Gleichmäßigkeit ständig neue Jahrgänge ins sprachliche Leben ein. Doch empirische Beobachtungen zeigen schon bei oberflächlicher Beobachtung eine Schichtenbildung in den Altersstufen. Auffällig sind emotional gefärbte Partikeln und Phraseologismen, auch Anredeformen und gewisse Wortbildungsreihen, bevorzugt verwendet von Jugendlichen. Es handelt sich um Sprachmoden, die noch keinen Sprachwandel ausmachen. Doch ist der offensichtliche Symptomcharakter dieser Ausdrücke für den Linguisten von Interesse. Auch wenn die zugrunde liegenden sozialen Gruppenbildungen nicht primär sprachlich orientiert erscheinen, sind sie doch für die Beschreibung von Prozessen der Sprachentwicklung von nicht geringer Bedeutung. Ein kurzer Einblick in die umfangreiche Diskussion zum Generationenproblem, besonders in den 20er Jahren (Dilthey folgend: Pinder, Petersen, Mannheim), erbringt für sprachhistorische Erörterungen folgenden Ertrag: Die Generationsbildung besitzt objektiv gegebene Bedingungen in den annähernd gleichen Geburtsjahrgängen und in übereinstimmenden Erlebnisgrundlagen; als sozial- subjektive Faktoren kommen annähernd gleiche geistige Verarbeitung und gesellschaftliche Bewußtseinsbildung hinzu. Aus diesen Voraussetzungen können sich Generationsgruppierungen ergeben, wenn sich im sozialen Bewußtsein Distanzhaltungen gegenüber älteren Jahrgängen (mit einem gewissen Mindestabstand) herausbilden und wenn sich gemeinsame Intentionen, Äußerungen (auch symbolischer Art) und gegebenenfalls Handlungen in der Gruppe und aus der Gruppe heraus einstellen. Generationseinheiten lösen sich auf, wenn diese Grundlagen irrelevant werden. Es gibt keine automatische Einbindung in eine Generationseinheit. Mit dem Kriterium der Erfahrungswerte ist nicht nur die nötige sozialökonomische und weltanschaulich-ideologische Einordnung, sondern auch die mögliche räumliche und territorial-staatliche Eingrenzung, auch die individuelle Einschränkung (Temperamente, Mentalitäten, intellektuelle und physische Potenzen) in aller Breite mitverstanden. „Generationen wären demnach die subjektiven Träger der objektiven geschichtlichen Prozesse“ (W. Krauß).

Sprachgeschichtlich sind Generationsformationen bei den größeren sprachlichen Umbrüchen gut zu beobachten, besonders beim Sprachwechsel sowie beim Übergang von der Mundart zur Hochsprache regionaler Ausprägung (z.B. vom Niederdeutschen zur hochdeutschen Umgangssprache). Vorauszusetzen ist die Einwirkung von Generationsgruppierungen für den in tentierten Sprachwandel (nach Adaptionsregeln, Lautersatz); für den intern angelegten, spontanen Lautwandel und Flexionsveränderungen dieser Art erscheint der Generationsbegriff kulturgeschichtlicher Prägung kaum geeignet.

Der von mehreren Historikern angesetzte Generationsrhythmus von 15 Jahren weckt die Aufmerksamkeit des Linguisten im Hinblick auf das „Resonanzphänomen“ in der Kindheit. Die Plastizität in diesem Alter und die folgende Konsolidierung in der Pubertät erklären nicht nur die Ausprägung und folgende Fixierung der Artikulationsbasis, sondern können auch auf die in der Kindheit, „im Zeitalter der Empfänglichkeit“ (Dilthey), zunächst nur vermittelte, später erst reflektierende Verarbeitung von Erfahrungen und Kulturwerten bezogen werden. Selbstverständigung, Distanzierung, Widerspruch werden erst möglich mit der Reife, die zur Selbstfindung innerhalb der Generation und zur Formierung der Generationseinheit führen kann, wenn die Bedingungen für die Konzentration mehrerer Jahrgänge zu einer Altersgruppe (Kohorte) gegeben sind.

Der Generationsbegriff kann in der Beschreibung und Erklärung des Sprachwandels keine zentrale Stellung einnehmen; im sprachsoziologischen „Differential“, das das Zusammenspiel der verschiedenen Faktoren im Kommunikationsprozeß reguliert, ist die Generation eine neben anderen potentiellen Größen, als solche jedoch umsichtig und theoretisch abgewogen zu berücksichtigen.

Termine
Akademientag 2024: "In Städten gesund leben – in gesunden Städten leben" 06.11.2024 10:00 - 17:30 — Akademiegebäude am Gendarmenmarkt, Markgrafenstraße 58, 10117 Berlin
Dawison in Barnow. Karl Emil Franzos und das Verhältnis von Juden zum Theater im 19. Jahrhundert 06.11.2024 17:15 - 18:45 — Universität Leipzig, Geisteswissenschaftliches Zentrum (GWZ), H3 2.15, Beethovenstraße 15, 04107 Leipzig
Heisenberg in Leipzig – Im Dunstkreis der Politik 07.11.2024 19:00 - 20:30 — Vortragssaal Bibliotheca Albertina, Beethovenstr. 6, 04107 Leipzig
Projektpräsentation und Kinoabend: Der SED-Staat und die evangelische Kirche in der DDR – ein stummer Kampf oder ein Dialog auf Augenhöhe? 12.11.2024 18:15 - 21:00 — Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Karl-Tauchnitz-Straße 1, 04107
Verleihung des Jabłonowski-Preises 2024 14.11.2024 18:00 - 20:00 — Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Karl-Tauchnitz-Str. 1, 04107 Leipzig
Caspar David Friedrich im Jubiläumsjahr 2024. Zwischen Aktualisierungen, Grundsatzfragen und Sachforschung 22.11.2024 11:15 - 12:15 — Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Karl-Tauchnitz-Straße 1, 04107 Leipzig
Vom indischen Buddha zum europäischen Josaphat: Arabische Quellen des Romans Barlaam und Josaphat 04.12.2024 18:30 - 20:00 — Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Karl-Tauchnitz-Straße 1, 04107 Leipzig
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