Öffentliche Herbstsitzung: Festvortrag am 8.12.2023
Prof. Dr. Yfaat Weiss (Leipzig, Jerusalem)
Professorin für Neuere Geschichte, insbesondere jüdische Geschichte, an der Universität Leipzig sowie Professorin für Jüdische Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem. Sie ist Direktorin des Leibniz-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow und seit 8.2.2019 Ordentliches Mitglied der Philologisch-historische Klasse.
Unheilige Zeiten im Heiligen Land
Am Beispiel der Scopusberg-Exklave fokussierte mein Vortrag unterschiedliche Aspekte israelischer Souveränitätsauffassung. Die 1948 im ersten arabisch-israelischen Krieg geschaffene entmilitarisierte Zone hatte bis zum sogenannten Sechstagekrieg im Jahr 1967 Bestand. Die Scopusberg-Exklave zeichnete sich durch eine einzigartige Konzentration internationaler religiöser, kultureller und humanitärer Stätten und Einrichtungen aus. In den fast zwanzig Jahren ihres Bestehens unter der Obhut der Vereinten Nationen führte dies zu zahlreichen Auseinandersetzungen zwischen dem israelischen und dem jordanischen Teil der Exklave.
Ich zeichnete nach, wie überraschend eng diese geopolitische Anomalie im scheinbar weit entfernten Nahen Osten mit der deutschen Geschichte verwoben ist. Auf dem Scopusberg befand und befindet sich bis heute die Hebräische Universität, eine tief in der deutschen Tradition verwurzelte Institution, deren Bibliothek und Sammlungen nach 1948 im israelischen Teil der Exklave inmitten von jordanischem Hoheitsgebiet zurückblieben. Weniger bekannt ist, dass sich im jordanischen Teil der Exklave das Auguste-Viktoria-Hospiz befand, ein Projekt Kaiser Wilhelms II., das für protestantische Gläubige große Bedeutung besaß und dessen Schicksal in enger Beziehung zu den Feindseligkeiten zwischen Israel und Jordanien stand. Im Hinblick auf den Auguste-Viktoria-Komplex und die Nutzungsrechte an demselben entfaltete ich eine Reihe unerwarteter Verknüpfungen zwischen dem Außenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und der sogenannten Israel-Mission in Köln, der Vertretung des Staates Israel vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Es entstand ein bilateraler Kontakt, der für beide Staaten vor dem Hintergrund ihrer Erinnerung an die Vergangenheit, ihres jeweiligen internationalen Status und ihrer Souveränitätsansprüche große Umsicht im Umgang miteinander vorschrieb.
Symposium am 10.11.2023
Statt einer klassischen Plenarsitzung fand am 10.11. das erste Symposium der Reihe "Energie, Ressourcen und Gesellschaft" statt unter dem Titel: Unser Energiedilemma – Irrwege und Auswege
Die Veranstaltung war nicht öffentlich und richtete sich an Akademie-Mitglieder.
Programm
Vorträge am 13.10.2023
Prof. Dr.-Ing. André Wagenführ (Dresden)
Professor für Holztechnik und Faserwerkstofftechnik an der Technischen Universität Dresden, am 10. März 2006 zum Ordentlichen Mitglied der Technikwissenschaftlichen Klasse gewählt. Forschungsschwerpunkte: Holzanatomische Strukturen, Modifikationen der Holzeigenschaften, Entwicklung von Verarbeitungstechnologien von Holz und holzanalogen Rohstoffen zu Leichtbauwerkstoffen für den Einsatz im Maschinen- und Fahrzeugbau, Verfahrensentwicklungen zur Herstellung und Optimierung lignocelluloser Holz- und Verbundwerkstoffe einschließlich Biokomposite, Sandwichverbünde und neuartige Materialkombinationen mit Holz
Holzbasierte Bioökonomie – Treiber innovativer Technologien
Es wird eine von acatech (Deutsche Akademie der Technikwissenschaften) und TU Dresden bearbeitete Studie zur holzbasierten Bioökonomie vorgestellt, die vom acatech- und SAW-Mitglied André Wagenführ geleitet und Ende 2022 abgeschlossen wurde. Ziel des vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) geförderten Verbundprojekts von acatech und TU Dresden war es, den Ist-Zustand der holzbasierten Bioökonomie in Deutschland zu analysieren sowie insbesondere neue innovative Technologien und Produkte auf Holzbasis aus aktuellen Forschungsergebnissen aufzuzeigen. Es sollten Hemmnisse in der Praxiseinführung identifiziert und in einer acatech POSITION insbesondere Handlungsoptionen für die Umsetzung und den Ausbau einer nachhaltigen Bioökonomie dargelegt werden. Dabei sollten Vor- und Nachteile unter Einbeziehung der Gesellschaft benannt und bewertet werden. Im Fokus dieser POSITION steht der Beitrag, den die stoffliche Verwendung von Holz für Ökonomie, Ökologie und Gesellschaft leisten kann. Dazu wurden innovative Technologien, Produkte und Dienstleistungen auf Holzbasis betrachtet. Neben der klassischen Holzverwendung werden auch andere Sektoren wie der Chemie-, der Transport- oder der Verpackungsbereich erwähnt sowie Beispiele aus den Bundesländern Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen und Sachsen-Anhalt vorgestellt. Ein limitierender Faktor ist die Rohstoffverfügbarkeit. Der Wald stellt nicht nur Holz, sondern auch andere Ökosystemleistungen bereit – Klima- und Artenschutz, Erholungsraum für den Menschen – und ist selbst durch den Klimawandel betroffen. Klimaangepasstes Waldmanagement und aktive Klimaschutzpolitik sind deshalb essenziell. Auch angesichts der Lieferkettenproblematik und zunehmender Ressourcenkonkurrenz ist eine effiziente Verwendung von Frischholz und Sekundärrohstoffen von Bedeutung. Eine nachhaltige holzbasierte Bioökonomie strebt eine Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Rohstoffverbrauch an und ist zentraler Baustein einer Kreislaufwirtschaft (Circular Economy): Es gilt Holzprodukte so lange wie möglich und mehrfach in Kaskaden zu nutzen und mit hoher Wertschöpfung wiederzuverwerten. Politik sollte den Vorrang der stofflichen Nutzung mit entsprechenden Maßnahmen stärker betonen und festschreiben. Zudem wird empfohlen, die energetische Verwendung auf stofflich nicht verwertbare Sortimente zu beschränken. Auch hierfür ist die Erarbeitung einer nachhaltigen Biomassestrategie sinnvoll. Die öffentliche Hand sollte Ausschreibungen stärker an Nachhaltigkeitskriterien ausrichten. Unternehmen müssen bei der Produktentwicklung das Prinzip „Design for Re-Use and Recycling“ von Beginn an mitdenken und auch Reparatur- und Leasingdienstleistungen anbieten. Zudem bedarf es einer breiteren gesellschaftlichen Einbindung, um Zielkonflikte frühzeitig zu diskutieren
Prof. Dr. rer. nat. habil. Jürgen Jost (Leipzig)
Honorarprofessor an der Universität Leipzig, Direktor am Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften Leipzig; Korrespondierendes Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse seit 9. Februar 2001; Arbeitsschwerpunkt: Mathematik (Geometrie, Analysis, Dynamische Systeme, Verbindungen zur Theoretischen Physik, Informationstheorie), Mathematische Biologie und Neurobiologie, Ökonomie, Komplexe Systeme
Hypergraphen – Modelle höherstufiger Wechselwirkungen
Netzwerkanalysen sind in den letzten Jahrzehnten sehr populär und erfolgreich geworden, berücksichtigen aber üblicherweise nur Wechselwirkungen zwischen Paaren von Elementen. Aber viele Wechselwirkungen, beispielsweise in chemischen Reaktionen oder in sozialen Netzwerken, vollziehen sich zwischen Gruppen von Elementen oder Personen. Wir entwickeln daher die mathematische Theorie der Hypergraphen um geeignete Werkzeuge zur Modellierung von solchen Systemen zu gewinnen und anwenden zu können. Sie erschließen auch neue Muster der Koordination in dynamischen Netzwerken. All dies werde ich an verschiedenen Beispielen erläutern.
Vorträge am 9.6.2023 im Botanischen Garten der TU Dresden
Prof. Dr. rer. nat. habil. Stefan Wanke (Dresden)
Gruppenleiter am Institut für Botanik an der Technische Universität Dresden, am 14. Dezember 2018 zum Mitglied im Jungen Forum gewählt, Forschungsschwerpunkte: Molekulare und organismische Diversität
Einblicke in die prädiktive Züchtung für Weinqualität
Die Bewertung neuer Rebsortenkandidaten hinsichtlich ihres Weinqualitätspotentials ist der zeitlich limitierende Faktor in der Rebenzüchtung. Junge Rebensämlinge liefern frühestens nach 3 bis 4 Jahren genügend Ertrag für einen ersten Weinausbau im Kleinmaßstab. Die anschließende Bewertung der Weine basiert auf der sensorischen Wahrnehmung qualifizierter Testpersonen und erfordert Wiederholungen über einen Zeitraum von 15 bis 20 Jahren. Das BMBF finanzierte Konsortium »SelWineQ« hat sich zum Ziel gesetzt, aus dem Blickwinkel der Züchtung, Vorhersagemodelle für das komplexe Merkmal Weinqualität zu entwickeln und geeignete Marker abzuleiten. Um dieses Ziel zu erreichen, werden im Projekt verschiedene Qualitätsaspekte, untersucht: 1) das genetische Qualitätspotential (GQP; unabhängig von der Umwelt), 2) das metabolische Qualitätspotenzial (MQP; Genotyp-Umwelt-Interaktion) des Mostes und 3) die Produktqualität (Weinanalytik und -sensorik). Um das übergeordnete Ziel zu erreichen steht die Entwicklung geeigneter Marker zum Einsatz in der Rebenzüchtung im Vordergrund. Die dafür benötigten Modelle werden an einem umfangreichen Trainingsdatensatz einer segregierenden F1-Weißweinpopulation erstellt (1000 Genotypen), welche an zwei Standorten gepflanzt sind. Die Qualitätsbewertung der in standardisierter Mikrovinifikation erzeugten Versuchsweine erfolgte über ein angepasstes sensorisches Bewertungsschema. Über die entwickelten Modelle konnten wichtige Inhaltsstoffe, darunter v. a. Aromakomponenten (Monoterpene, C13-Norisoprenoide sowie Hefe-stämmige Ester) mit positivem Einfluss auf die Weinqualität identifiziert werden. Weitere qualitätsrelevante Inhaltsstoffe werden über die erzeugten Datensätze der non-targeted Metabolomanalysen erschlossen und dienen als eine solide Grundlage für die Modellierung des MQP. Durch Einbeziehung weiterer Jahrgänge (Projektlaufzeit 9 Jahre) und die Erweiterung der untersuchten Genotypen werden vielversprechenden Ergebnisse validiert und die Modellierung weiter optimiert. Eine hochdichte genetische Karte aus überwiegend (80%) vollinformativen, haplophasen-spezifischen Markern (HBMs) konnte über eine effiziente Genotyping by Sequencing (GBS)-Strategie erzeugt werden. Diese wird für QTL-Analysen (Quantitative Trait Locus) eingesetzt, um qualitätsrelevante Merkmale genetisch zu kartieren und anschließend detaillierter zu untersuchen. »SelWineQ« führt über die Identifikation von Deskriptoren bereits kurzfristig zu einem verbesserten Verständnis der Weinqualität und mittelfristig über die Entwicklung von MAS-Markern (markergestützte Selektion) für Qualitätsmerkmale zu einer direkten Anwendung im Züchtungsprogramm. Langfristig entstehen dadurch qualitativ verbesserte und klimaangepasste Rebsorten für einen Pestizid-reduzierten und nachhaltigen Weinbau.
PD Dr. Stephan Flemmig (Jena)
Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Thüringische Landesgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, am 13. Dezember 2019 zum Mitglied im Jungen Forum gewählt, Forschungsschwerpunkte: Mittelalterliche Geschichte, insbesondere Kirchengeschichte und spätmittelalterliche Geschichte; Landesgeschichte; Ostmitteleuropäische Geschichte, insbesondere Polens und Böhmens
Antiintellektualismus in der böhmischen Franziskanerobservanz um 1500? Das naturkundliche Werk des Jan Bosák Vodňanský
Im 15. und frühen 16. Jahrhundert wurde Böhmen von der hussitischen Bewegung und deren Folgen zutiefst geprägt - in politischer, religiöser und gesellschaftlicher Hinsicht. Auch die Franziskaner, die bereits seit dem Hochmittelalter in Böhmen präsent waren, mussten ihr Verhältnis zum Hussitismus klären. Obwohl die franziskanische Observanzbewegung in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts durchaus erfolgreich war, verblieben die Brüder insgesamt in einer Position der Minderheit. Angesichts von Spannungen innerhalb der Ordensgemeinschaft und aufgrund der Konkurrenz zum Hussitismus musste unter anderem das eigene Verhältnis zu Bildung und Gelehrsamkeit geklärt werden. Bis ins frühe 16. Jahrhundert dominierte dabei eine stark antiintellektualistische Position, die geradezu typisch für die böhmische Franziskanerobservanz wurde. Gegen diese Haltung positionierte sich der Franziskaner Jan Bosák Vodňanský. In seinen theologischen Werken polemisierte er gegen verschiedene hussitische Strömungen, aber auch gegen die Lutheraner. Neben diesem gut bekannten theologischen Wirken steht ein eher unbekanntes Werk von Vodňanský – der Vocabularius dictus Lactifer von 1511. Dieses lateinisch-tschechische Wörterbuch mit umfangreicheren inhaltlichen Ergänzungen enthält ein bemerkenswertes naturkundliches Œuvre, das im Vortrag näher vorzustellen und vor dem Hintergrund der böhmischen und franziskanischen Geschichte zu bewerten ist.
Klassenübergreifender Vortrag am 12.5.2023
Prof. Dr. rer. nat. habil. Martin Bertau (Freiberg), Prof. Dr. rer. nat. habil. Hans-Bert Rademacher (Leipzig), Prof. Dr. phil. habil. Christiane Wiesenfeldt (Heidelberg)
Das Konzept einer idealisierten Metrik in Mathematik, Musik und Naturwissenschaften
Dieser Vortag, der aus drei Teilen besteht, ist eine Veranstaltung im Rahmen der klassenübergreifenden Initiative, die mit dem Streitgespräch zu Pandemie und Gesellschaft im Mai dieses Jahres begonnen hat. Wir wollen vorstellen, welche Bedeutung das Konzept einer idealisierten Metrik in verschiedenen Wissenschaften haben kann und darüber fächerübergreifend ins Gespräch kommen.
Zunächst wird das Thema aus Sicht der Mathematik von Hans-Bert Rademacher behandelt.
Die zweidimensionale Geometrie unserer unmittelbaren Umgebung beschreibt sehr gut die Ebene Geometrie, die auch Euklidische Geometrie genannt wird und die schon in der Schule eingehend behandelt wird. Eine Geometrie wird durch eine Messvorschrift, die Metrik, definiert. Wenn auch – wie z.B. in der Luft- oder Schifffahrt – Effekte berücksichtigt werden sollen, bei der die Gestalt der Erde eine Rolle spielt, benutzt man die runde Metrik, also die Oberfläche einer Kugel, die in der Mathematik auch Sphäre genannt wird. Die Euklidische und Sphärische Geometrie können mit Hilfe des Konzepts der Krümmung als Geometrien konstanter Krümmung charakterisiert werden. Diese Geometrien werden durch idealisierte Metriken beschrieben, sie sind homogen und besitzen maximale Symmetrie und können als Approximation der realen Verhältnisse benutzt werden. Wie verhalten sich geometrische Größen dieser idealisierten Metrik bei einer Störung der Metrik? Dies wollen wir für verschiedene Größen diskutieren.
Die Sicht der Musikwissenschaft erläutert Christiane Wiesenfeldt.
Bevor die ars musica im 14. Jahrhundert ihre Lehrumgebung des Quadriviums neben Arithmetik, Geometrie und Astronomie verlässt und in das Trivium zur Grammatik, Rhetorik und Dialektik abwandert, war sie eine Zahlen-Kunst, eine Kunst der Proportionen und Proportionalitäten. Erst durch Beherrschung dieser Methoden war der musicus in der Lage, die ‚eigentliche‘ Harmonie (maxima perfectaque harmonia) zu schaffen. Dieses idealisierte Konzept, vertreten durch Anicius Manlius Severinus Boethius (ca. 480–524), der einflussreiche Lehrschriften zu allen Gebieten des Quadriviums hinterließ, verlor auch nicht an Bedeutung, als in der Betrachtung der Musik ab dem 13. und 14. Jahrhundert der Klang immer wichtiger als die Zahl wurde und man längst von oralen Traditionen zu schriftlicher Fixierung übergangen war: Noch immer verbargen sich in der Lehre von den Proportionen Räume, die Spekulationen, Idealisierungen und religiöse Deutungen möglich machten. Nicht zuletzt wurde das metrische Optimum einer Dreizeitigkeit – das Tempus perfectum prolatione maior – durch das Symbol eines Kreises dargestellt. Diese Spannung zwischen notiertem Faktum und idealisierter Sinngebung soll Thema sein.
Die naturwissenschaftliche Sicht wird von Martin Bertau dargestellt.
An Phasengrenzflächen streben Flüssigkeiten eine kugelförmige Gestalt an. Bekannte Beispiele dafür sind Quecksilbertröpfchen oder Wassertropfen in der Schwerelosigkeit. Im Idealzustand, ohne äußere Einflüsse, führen zwischenmolekulare Kräfte zur Ausbildung einer kugelförmigen Gestalt, denn die Kugelgeometrie ist zugleich das energetische Minimum für die Oberflächenenergie. Diese Oberflächenenergie, gemeinhin auch als Oberflächenspannung bekannt, erlaubt es z.B. Wasserläufern, auf der Wasseroberfläche zu laufen, ohne unterzugehen. Die Phasengrenzflächen, an denen dieses Phänomen zu beobachten ist, können durch unterschiedliche Aggregatzustände gegeben sein, wie beim Kontakt von Wasser (flüssig) mit Luft (gasförmig). Es tritt aber auch auf, wenn zwei Flüssigkeiten nicht mischbar sind (Wasser/Öl), wie wir es von Fettaugen auf der Suppe kennen. Beide Fluide bilden zueinander eine Grenzschicht und versuchen, diese auf das Minimum zu reduzieren: Die Grenzschicht nimmt eine runde Geometrie an. Wie ausgeprägt das Bestreben nach Minimierung des energetischen Aufwandes zum Aufbau und Erhalt einer Grenzschicht ist, zeigt sich, wenn zwei Fettaugen aufeinandertreffen. Sie verbinden sich (koaleszieren), und aus zwei kleinen Fettaugen wird ein großes, da der Kreisumfang eines großen Kreises kleiner ist als die Summe der Kreisumfänge zweier kleiner Kreise. Im gleichen Maße nimmt also die Grenzflächenenergie ab. Dieser Prozess läuft freiwillig ab. Um das große Auge wieder zu teilen, muss Arbeit verrichtet werden, also Energie aufgewandt werden, auch wenn der dafür aufzuwendende Betrag an Energie gering erscheint, wie das einfache Zerteilen mit einem Löffel zeigt.
Festvortrag am 14.4.2023 im Rahmen der Öffentlichen Frühjahrssitzung
Prof. Dr.-Ing. habil. Horst Biermann (Freiberg)
Professor für Werkstofftechnik an der TU Bergakademie Freiberg, am 13. Februar 2015 zum Ordentlichen Mitglied der Technikwissenschaftlichen Klasse der Sächsischen Akademie der Wissenschaften gewählt.
Forschungsschwerpunkte: Plastizität und Ermüdungsverhalten von metallischen Werkstoffen, intermetallischen Legierungen und Verbundwerkstoffen, Hochtemperatur-Werkstofftechnik, Mikrocharakterisierung, Thermochemische Randschichtbehandlung, Elektronenstrahlbehandlung, Additive Fertigung
Von Stahl bis zum Formgedächtnis – Alleskönner Eisen
Eisen ist eines der häufigsten Elemente der Erde. Es hat mit der Eisenzeit einer ganzen Epoche seinen Namen gegeben. Aus Eisen wird zusammen mit Legierungselementen Stahl hergestellt, der massenmäßig wichtigste Konstruktionswerkstoff. Die Stahlerzeugung ist in Deutschland mit jährlich ca. 40 Mio. Tonnen eine bedeutende Industrie, die aufgrund des Zwangs der Vermeidung von CO2-Emissionen vor großen Herausforderungen steht.
Die Gruppe der Stähle bietet eine nahezu unüberschaubare Vielfalt von Qualitäten und Eigenschaften. Stähle sind für den Hochbau, für den Maschinenbau, für Anwendungen im Bereich Mobilität, in der Energieerzeugung, in der Lebensmittelindustrie und vielen weiteren Branchen unverzichtbar.
Im Vortrag soll der Bogen gespannt werden von ausgewählten Stählen, den hochlegierten, korrosionsbeständigen Stählen, bis hin zu einer relativ neuen Entwicklung, den Eisen-basierten Formgedächtnislegierungen. Die korrosionsbeständigen Stähle bestimmen unser tägliches Leben, sei es beispielsweise im Haushalt, in der Medizintechnik oder in der Architektur. Ihre besonderen Eigenschaften erhalten sie durch die Bildung einer natürlichen Passivschicht, sobald der Stahl mit Luft in Berührung kommt. Verantwortlich für diesen Effekt ist das Legierungselement Chrom.
Obwohl die hochlegierten, korrosionsbeständigen Stähle bereits 1912 durch Maurer und Strauß patentiert wurden, sind sie auch heute immer hoch Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Untersuchungen. In jüngerer Zeit werden sie zudem mittels additiver Fertigung „3D-gedruckt“, wo insbesondere auf Ebene der Mikrostruktur noch viele Fragen offen sind.
Neben diesen etablierten Werkstoffen wurde in den letzten Jahren auch Fe-basierten Formgedächtnislegierungen große Aufmerksamkeit gewidmet. Obwohl der Formgedächtnis-Effekt bereits 1932 durch Ölander entdeckt wurde, dauerte es bis zur Jahrtausendwende, bis eine Fe-basierte Legierung im System Fe-Mn-Si für Anwendungen, vor allem im Bauingenieurwesen, entwickelt wurde. Diese Legierung bietet das Potential, die Verfahren der Stahltechnologie zu nutzen, um funktionale Formgedächtnis-Werkstoffe herzustellen. In den letzten ca. 15 Jahren wurden von japanischen Gruppen zwei weitere Legierungs-Systeme entdeckt, die den Formgedächtnis-Effekt besitzen: Fe-Mn-Al-Ni und Fe-Ni-Co-Al.
Der Vortrag gibt einen Einblick in ausgewählte Aspekte von Eisenbasis-Legierungen, deren Eigenschaften und zukünftige Entwicklungen.
Vorträge am 10.3.2023
Prof. Dr. rer. pol. habil., em. Hans Wiesmeth (Dresden)
Professor für Volkswirtschaftslehre an der Technischen Universität Dresden; am 13. Februar 2004 zum Ordentlichen Mitglied der Technikwissenschaftlichen Klasse der Sächsischen Akademie der Wissenschaften gewählt, Präsident der Akademie seit 1. Januar 2016.
Forschungsschwerpunkte: Allgemeine Gleichgewichtstheorie, Allokationsansätze, Allokationsmechanismen für öffentliche Güter, insbesondere auch im Umweltbereich, Umweltökonomie in Theorie und Praxis.
Klimapolitik in schwierigen Zeiten – Herausforderungen und Chancen
Spätestens seit dem „Erdgipfel“ 1992 in Rio de Janeiro gibt es internationale Bemühungen, die Treibhausgasemissionen zu beschränken – bisher ohne durchschlagenden Erfolg. Nicht nur die „Conference of the Parties“ letzten November in Sharm el-Scheich (COP 27) gibt Zeugnis davon. Einige reichere Länder, wie Deutschland, das von Anfang bei diesen Bemühungen dabei war (COP 1 war 1995 in Berlin), können zwar beachtliche Reduktionen der Emissionen aufweisen, haben aber immer noch Schwierigkeiten, die selbstgesteckten Ziele zu erreichen. Dies ist insofern erstaunlich, als einerseits die Gefahren des Klimawandels seit langem weithin bekannt sind, andererseits seit geraumer Zeit Technologien zur Verfügung stehen, um den Klimawandel abzubremsen. Auch in Hinblick auf die vereinbarte Unterstützung bei der Adaption an den Klimawandel (Klimafonds) für besonders gefährdete ärmere Länder tut sich wenig. Was steckt hinter diesen Beobachtungen? Im Vortrag werden einige Aspekte, die aus volkswirtschaftlicher Sicht relevant sind, erläutert. Die Herausforderungen, die national sowie international zu bewältigen sind, werden ebenfalls analysiert. Trotz allem ergeben sich dabei auch Chancen für die Wirtschaft.
Zur Einordnung: Die Volkswirtschaftslehre interessiert sich für das (wirtschaftliche) Verhalten der Menschen unter gewissen Rahmenbedingungen, die sich extern (Corona-Nachwirkungen, Ukrainekrieg, Inflation, ...) entwickeln oder intern über die allgemeine Wirtschaftspolitik vorgegeben werden.
Prof. Dr. sc. math. Matthias Schwarz (Leipzig)
Professor für Mathematik in den Naturwissenschaften an der Universität Leipzig, am 13. Februar 2015 zum Ordentlichen Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse gewählt.
Forschungsschwerpunkte: Symplektische Geometrie, Symplektische Topologie; Hamiltonsche Dynamische Systeme; Globale Analysis, Morse-Theorie, Floer-Theorie
Geometrie und Symmetrien der komplexen Zahlen
Die Grundgleichung der Quantenphysik wäre ohne die Mathematik der komplexen Zahlen nicht formulierbar. Die Geometrie und die Symmetrien der komplexen Zahlen spielen auch eine wichtige methodische Rolle in der Erforschung Dynamischer Systeme aus der Physik. Im Vortrag werden einige charakteristische Merkmale dieser nicht-euklidischen Geometrie anhand von praktischen Anwendungen beleuchtet. Die Leipziger Mathematiker August Ferdinand Möbius (1790-1859, Mitbegründer der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften) und Paul Koebe (1882-1945) nehmen dabei fundamentale Rollen ein.
Vorträge am 10.2.2023
Prof. Dr. rer. nat. habil. Daniel Huster (Leipzig)
Professor für Medizinische Biophysik an der Universität Leipzig; am 8. Februar 2013 zum Ordentlichen Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse gewählt.
Forschungsschwerpunkte: Festkörper-NMR-Spektroskopie; Struktur- und Dynamik- Untersuchungen von Membranproteinen, Amyloiden Strukturen und Protein-Ligand-Komplexen; Chemische und Biophysikalische Analytik von biologischen Geweben.
Die Struktur der Zellmembran – fluide, elastisch und adaptierbar
Das Flüssig-Mosaik-Modells der Zellmembran aus den 70er Jahren (Singer & Nicolson, 1972) beschreibt die Biomembranen als flüssig-kristalline Lipiddoppelschicht, in der die Membranproteine mosaikartig vorhanden und lateral frei beweglich sind. Insbesondere gelten Biomembranen nicht als starre, sondern als dynamische Strukturen. In den letzten Jahrzehnten wurde das Modell kontinuierlich weiterentwickelt. Heute ist bekannt, dass die Lipide eine laterale Heterogenität aufweisen, die einer großen Dynamik unterliegt. Weiterhin wurden große Erfolge bei der Strukturbestimmung von verschiedenen Membranproteinen erzielt, u.a. Nobelpreise 1988 (Michel, Deisenhofer, Huber), 2003 (Mackinnon) und 2012 (Kobilka). Im Vortrag werde ich in einem allgemeinen Teil zunächst die Komplexität von Zellmembranen erläutern, auf laterale Inhomogenitäten der Lipidverteilung eingehen und die grundsätzliche Architektur von Membranproteinen erklären. Im zweiten Teil möchte ich eine aktuelle Studie vorstellen, in der wir die Wechselwirkungen zwischen den Lipiden und einem Membranprotein genauer untersucht haben.
PD Dr. phil. habil. Christian Schmidt (Berlin)
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin, Mitglied des Jungen Forums der Akademie seit 14. Dezember 2018.
Forschungsgebiete: Praktische Philosophie / Rechts- und Sozialphilosophie.
Technologie als Verhängnis
In den letzten Jahren häufen sich gesellschaftliche Auseinandersetzungen um den Einsatz von Technologien, deren Auswirkungen politische Verfahren korrumpieren oder gar das menschliche Leben im planetaren Maßstab bedrohen. Ausgehend von diesen Debatten stellt sich ganz grundsätzlich die Frage, welches Verhältnis Gesellschaften zu den Technologien haben, die von ihnen hervorgebracht wurden und sie nun prägen. Ein rein instrumentelles Verständnis von Technologien unterschätzt deren prägenden Charakter, der sich unter anderem darin erweist, dass sie ganze Lebensformen stützen. Für Technologien gilt damit, was auch für soziale Ordnungen ganz generell gilt: Sie werden von Menschen geschaffen und sind damit prinzipiell einer absichtsvollen Veränderung durch Menschen zugänglich. Als komplexe soziale Gebilde widersetzen sie sich aber auch einer willkürlichen Veränderung. Zu viele Praktiken und Lebensvollzüge hängen von ihnen ab, um sie einfach aufzugeben oder radikal zu transformieren. Im Vortrag werde ich deshalb untersuchen, wie technologische Beharrungstendenzen zu verstehen sind und welche Ansätze zu einer bewusst gesteuerten technologischen Transformation sich aus dem Vergleich mit Veränderungen sozialer und politischer Ordnungen gewinnen lassen.
Vorträge am 13.1.2023
Prof. Dr. phil. habil. Hans Ulrich Schmid (Leipzig)
Professor i. R. für Geschichte der deutschen Sprache und für Historische Sprachwissenschaft an der Universität Leipzig; am 11. Februar 2005 zum Ordentlichen Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Sächsischen Akademie der Wissenschaften gewählt, Projektleiter des „Althochdeutschen Wörterbuchs“, Vorsitzender der Projektbegleitenden Kommission der „Deutschen Inschriften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit“.
Forschungsschwerpunkte: Historische Laut- und Wortgeographie, Epigraphik des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Lexikographie des rezenten Bairischen und des Neuisländischen, Wortbildung des Althochdeutschen und des Bairischen.
Bescheiden – Kurze Skizze einer Wortgeschichte
Bescheiden-heit leitet sich – unschwer zu erkennen – vom Adjektiv bescheiden her, und dieses geht auf das Verbum bescheiden zurück. Das Verbum wiederum ist eine Präfixbildung zu scheiden. Bei etwas näherem Hinsehen zeigt sich eine Schwierigkeit, denn das Adjektiv bescheiden ist eigentlich ein zum Adjektiv gewordenes Partizip Präteritum, aber es fügt sich nicht (mehr) ins Formenparadigma des zugrundeliegenden einfachen Verbs. Vom heutigen Standpunkt aus wäre ja zu erwarten, dass es beschieden heißt, und nicht bescheiden. Wenn diese geringfügige formale Schwierigkeit geklärt ist, kann die Bedeutungsentwicklung in den Blick genommen werden.
Eine Bedeutungsgeschichte muss beim Verb bescheiden ansetzen. Dessen früheste Bedeutungen (mittelhochdeutsch, 12. Jahrhundert) lassen noch den Zusammenhang des Verbums mit dem Simplex scheiden erkennen. Die Bedeutung ist ‘auseinanderhalten, trennen’ (z.B. zwischen richtig und falsch, zwischen gut und böse). Dementsprechend bedeutet das Adjektiv bescheiden in etwa ‘fähig zu unterscheiden’ (= „bescheiden I“), im Weiteren dann auch ‘wissend, klug, verständig’ (= „bescheiden II“). Daraus entwickelt sich im Laufe der Zeit die heute noch gebräuchliche Bedeutung ‘zurückhaltend, maßvoll’ („bescheiden III“). Erst in der jüngsten Vergangenheit bildete sich schließlich die Bedeutung ‘qualitativ schlecht, mies’ heraus (= „bescheiden IV“), wobei sicherlich der Anklang an ein ähnlich anlautendes Verbaladjektiv, nämlich be-sch..., mit ursächlich gewesen ist.
Abschließend kann anhand der Darstellung des Wortes bescheiden in modernen lexikographischen Handbüchern ein Blick auf die Situation der aktuellen Lexikographie geworfen werden, und zwar verbunden mit der Frage: Ist diese Situation bescheiden I? – bescheiden II? – bescheiden III? – oder am Ende doch nur bescheiden IV ...?
Prof. Dipl.-Ing., Dr. rer. nat. techn. habil. Harald Rohm (Dresden)
Professor für Lebensmitteltechnik an der Fakultät Maschinenwesen der Technischen Universität Dresden, am 10. Februar 2017 zum Ordentlichen Mitglied der Technikwissenschaftlichen Klasse der Sächsischen Akademie der Wissenschaften gewählt.
Forschungsschwerpunkte: Lebensmitteltechnologische Fragestellungen (vor allem im Bereich Milchprodukte, Süßwaren und Backwaren), technofunktionelle Eigenschaften von Biopolymeren, mikrobielle Exopolysaccharide, Lebensmittelrheologie, Hochgeschwindigkeitsschneiden.
Nachhaltigkeit in der Lebensmittelproduktion: wie, was, warum ...
Nachhaltigkeit in seiner komplexen und vielschichtigen Bedeutung hat sich in den letzten Jahren zu einem zentralen Bestandteil gesellschaftlichen Handelns und gesellschaftlicher Verantwortung entwickelt. Als „nachhaltig“ wird eine Entwicklung dann bezeichnet, wenn sie zwar den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht und dabei aber nicht die Möglichkeiten künftiger Generationen gefährdet, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Auch nachhaltige Ernährung („sustainable diets“ im FAO-Dokument), die für eine Transformation des Lebensmittelverbrauchs einschließlich der vor- und nachgelagerten Prozesse steht, kann als wesentlicher Bestandteil einer nachhaltigen Entwicklung gesehen werden.
Im Vortrag werden, aufbauend auf einleitenden Darstellungen, Probleme und Herausforderungen entlang der Wertschöpfungskette unter Berücksichtigung von Zieldimensionen besprochen und allgemeine, breit gefasste Ansätze für eine nachhaltigere Gestaltung der Ernährung präsentiert. Ausgehend von den verfügbaren Informationen zu während der gesamten Wertschöpfung entstehenden Verlusten und Abfällen wird dann auf Möglichkeiten zur zielgerichteten Weiterverwendung von Koppelprodukten, die bei der Herstellung ausgewählter pflanzlicher und tierischer Lebensmittel anfallen, eingegangen. Dabei wird auch auf stoffliche Besonderheiten fokussiert, die bei einer Substitution konventioneller Produktbestandteile zu beachten sind.