Vortrag am 12.11.2021
Prof. Dr. phil. Gerlinde Huber-Rebenich (Bern)
Professorin für Lateinische Philologie am Institut für Klassische Philologie der Universität Bern; am 8. Februar 2002 zum Ordentlichen Mitglied der Philologisch-historischen Klasse gewählt, seit 8. Oktober 2010 Korrespondierendes Mitglied der Philologisch-historischen Klasse.
Forschungsprojekte: Repertorium der textbegleitenden Druckgraphik zu Ovids Metamorphosen'.
Der jüdische Historiograph Flavius Josephus – ein scriptor ecclesiasticus?
Flavius Josephus, der Historiograph des Jüdischen Krieges und der Jüdischen Altertümer, gehörte seit der Spätantike das ganze Mittelalter hindurch zu den meistgelesenen antiken Geschichtsschreibern. Dass das Werk eines Juden über jüdische Geschichte in christlichem Kontext nicht nur überleben, sondern sogar anhaltendes Interesse finden konnte, mag zunächst erstaunen. Wie es dazu kommen konnte, dass Flavius Josephus von vielen geradezu als scriptor ecclesiasticus wahrgenommen wurde, lässt sich indes anhand gewisser Merkmale seiner Texte und der Interpretationsspielräume, die sie eröffnen, gut nachvollziehen.
Vorträge am 8.10.2021
Prof. Dr. phil. Christoph Wolff (Belmont, USA)
em. Professor für Musikwissenschaft an der Harvard University in Cambridge (Massachusetts) und Direktor des Bach-Archivs Leipzig i. R., am 09. Februar 2001 zum Korrespondierenden Mitglied der Philologisch-historischen Klasse gewählt.
Carl Philipp Emanuel Bach und die Musikgeschichte
Der zweitälteste Sohn des Leipziger Thomaskantors überstrahlte zu Lebzeiten den Ruf seines Vaters. Jedoch kommt ihm das Verdienst zu, nicht nur die Grundlage für dessen Nachwirkung geschaffen zu haben. Denn er erfasste auch – mit der Geschichte der Musikerfamilie Bach als Ausgangspunkt – die größeren Zusammenhänge der europäischen Musikgeschichte mit seiner umfangreichen Bibliothek und vor allem mit der seinerzeit größten Sammlung von Musikerporträts aus vier Jahrhunderten. Zugleich festigte er den eigenen historischen Stellenwert auf dreifache Weise: in einer Vernichtungsaktion, der seine Jugendwerke zum Opfer fielen, in einer öffentlichen Gegenüberstellung mit Werken seines Vaters und Georg Friedrich Händels sowie in dem Bemühen, seine Musik vor der Vergessenheit zu bewahren.
Prof. Dr.-Ing. Andrés Fabián Lasagni (Dresden)
Professor für laserbasierte Methoden der großflächigen Oberflächenstrukturierung am Institut für Fertigungstechnik der Technischen Universität Dresden und Direktor des Center for Advanced Micro-Photonics (CAMP), Fraunhofer-Institut für Werkstoff- und Strahltechnik IWS, Dresden, am 9.Oktober 2020 zum Ordentlichen Mitglied der Technikwissenschaftlichen Klasse gewählt.
How to control surface properties by fabricating single and multi-scaled periodic structures
Functionalized surfaces can be obtained by fabricating deterministic or stochastic structures with features in the micrometer, submicrometer and nanometer range. Furthermore, surface properties can be further enhanced by combining structural elements with different length scales, which occurs typically in natural examples.
In this presentation, different research activities regarding the fabrication of repetitive structures with single and multi-scale topographies are summarized, and thus creating multi-functional surfaces. Within this scope, aluminum-alloys, steels and other materials have been treated using laser-based fabrication methods (Fig. 1a-d), developing surface properties, such controlled wettability, as well as optical and biological properties. For the laser treatments, Direct Laser Writing (DLW) and Direct Laser Interference Patterning (DLIP) have been employed, using laser sources with different pulse durations. Furthermore, due to the nature of interaction between the laser pulses with the metallic substrates, also the formation of Laser Induced Periodic Surface Structures (LIPSS) was observed for some materials (for ps-pulses) and thus producing patterns with a three-level hierarchy.
Furthermore, the utilization of different replication processes (Fig. 1e-f) is addressed, such a plate-to-plate and roll-to-roll embossing methods, to transfer the produced features in metallic stamps to polymer foils. Finally, different application examples are discussed.
Vortrag zur Öffentlichen Festsitzung am 1.10.2021
Prof. Dr. rer. nat. habil. Manfred Wendisch (Leipzig)
Professor für Meteorologie an der Universität Leipzig; am 11. Februar 2011 zum Ordentlichen Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse gewählt.
Klimawandel in der Arktis – Zur Rolle von Warmlufteinschüben und Wolken
Ausgelöst durch die globale Erwärmung, laufen derzeit in der Arktis dramatische Klimaänderungen mit bisher nicht gekannter Geschwindigkeit ab, welche möglicherweise auch unser gegenwärtiges und zukünftiges Wetter- und Klimageschehen in Europa stark beeinflussen können. Eine wichtige und bisher wenig erforschte Rolle spielen dabei die scheinbar häufiger auftretenden Warmlufteinschübe aus mittleren Breiten in die Arktis. Einerseits kann dieses Phänomen als Folge der arktischen Erwärmung interpretiert werden; andererseits haben damit verbundene Effekte das Potenzial, die arktischen Klimaänderungen weiter zu verstärken. Die Vorhersage der weiteren Entwicklung der Häufigkeit von Warmlufteinschüben wird allerdings dadurch erschwert, dass insbesondere komplexe Wolkenentwicklungsprozesse bisher nur unzureichend von numerischen Vorhersagemodellen wiedergegeben werden. Ausgehend von einer Beschreibung von Beispielen für die derzeitig ablaufenden Klimaänderungen in der Arktis, werden im Vortrag die Rolle von Warmlufteinschüben in die Arktis und die Probleme bei der Modellierung von dabei ablaufenden Wolkenprozessen vorgestellt. Notwendige internationale Beobachtungsprogramme (MOSAiC Expedition und geplanter Flugzeugmessungen im kommenden Frühjahr) zur Lösung der Modellprobleme werden diskutiert.
Vorträge am 11.6.2021
Prof. Dr.-Ing. habil. Jean Pierre Bergmann (Ilmenau)
Professor für Fertigungstechnik an der TU Ilmenau; am 13. Februar 2015 zum Ordentlichen Mitglied der Technikwissenschaftlichen Klasse der Sächsischen Akademie der Wissenschaften gewählt.
Arbeitsgebiete: Fügtechnik, additive Fertigung sowie Automatisierung und Industrialisierung derartiger Prozesse
Faszination Laserstrahlschweißen – was passiert alles beim Schweißen?
Das Laserstrahlschweißen hat eine rasante Entwicklung in der industriellen Umsetzung erfahren, denn es erlaubt zum einen sehr hohe Prozessgeschwindigkeiten umzusetzen und somit auch eine hohe Automatisierung zu erzielen. Das Laserstrahlschweißen birgt jedoch gerade bei der Entstehung des Schmelzbades und insbesondere einer Kapillare im Bauteil und während des Fügevorganges eine Vielzahl von Effekten und Phänomenen, die eine hohe Komplexität aufweisen und die im Laufe der Zeit durch neuere Systemtechnik sichtbar gemacht werden können. Bei hohen Leistungsdichten an der Oberfläche entsteht Metalldampf, sodass sich ein dynamisches Gleichgewicht zwischen Metalldampf und Schmelze ergibt. Bei der Bewegung des Laserstrahles bei hohen Geschwindigkeiten entstehen somit Schmelzefluss und Metalldampfaustritt aus der Kapillare, was beispielsweise zu Instabilitäten und Spritzerbildung führt. Diese Phänomene beeinflussen das Schweißergebnis und begrenzen zur Zeit die maximalen Schweißgeschwindigkeiten. Die Beeinflussung der Kapillare kann auf unterschiedliche Wege erfolgen und wird im Beitrag beispielhaft auf zwei Wege vorgestellt. Daraus wird dann eine modellhafte Beschreibung abgeleitet.
Faszination Laserstrahlschweißen geht darüber hinaus auch auf die Möglichkeit der kurzzeitigen Beeinflussung der Erstarrung durch Pulsleistungsmodulation und wird hier ebenso einige Einblicke geben. Hiermit kann beispielweise Einfluss auf die Metallurgie in der Schweißnaht genommen werden.
Der Beitrag wird einen grundlegenden allgemeinen Überblick geben und wird durch Aufnahmen aus Hochgeschwindigkeitskinematographie untersetzt.
Prof. Dr. med. habil. Michael Stumvoll (Leipzig)
Professor für Innere Medizin/Endokrinologie an der Universität Leipzig, Direktor der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Nephrologie am Universitätsklinikum Leipzig; am 13. April 2018 zum Ordentlichen Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse gewählt.
Forschungsschwerpunkte und Arbeitsgebiete: Pathogenese des Typ-2-Diabetes und Adipositas, Pathogenese von Insulinresistenz und Betazell-Dysfunktion, Genetik von Diabetes-assoziierten Krankheitsphänotypen, Genomweite Assoziationsstudien, Populationsgenetik (Leiter „Sorbenstudie“), Regulation von Hunger und Sättigung (fMRI), Adipozytokine und Fettgewebe, Prävention von Adipositas und Typ-2-Diabetes.
Evolution des Metabolischen Syndroms
Das Metabolische Syndrom ist der Inbegriff einer modernen Zivilisationskrankheit und beschreibt das gemeinsame Auftreten von Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörung und Diabetes und hat als gemeinsame Ursache Überernährung und „ungünstige“, d. h. viszerale Fettvermehrung gemessen als Taille-Hüft-Quotient. Abgesehen von unnatürlicher Käfig- oder Masttierhaltung bzw. Winterspeck, der dann aber auch im Winter komplett aufgebraucht wird, scheint die viszerale Adipositas eine sehr menschliche Krankheit zu sein. Wir Menschen sehen uns ja gerne als die Krönung der Evolution, auch wenn es rein anhand von Individuenzahlen größere Erfolgsgeschichten gibt. Der sogenannte Erfolg der menschlichen Evolution wird ja gerne und durchaus subjektiv mit der hohen Leistungsfähigkeit unseres Gehirns dokumentiert. Andererseits ist aber das menschliche Gehirn auch im Ruhezustand eine energetische Maximalherausforderung, macht es doch fast ein Viertel des Grundumsatzes aus – und die Energiequelle ist ja ausschließlich Glukose. Mit großem Abstand folgt hiernach der Schimpanse, dessen Gehirn nur noch 8% des Grundumsatzes benötigt. Damit ist das menschliche Gehirn nicht nur ein neurobiologisches Evolutionsprodukt, sondern auch eines der dazu passenden Energieumverteilung, denn die für das teuere Gehirn musste ja irgendwo eingespart worden sein. Im Zentrum dieser Betrachtungen hier steht daher biologische und kulturhistorische Evolution von Glukose, Fett und Fettspeicherung sowie Energiebilanz.
Zuckermoleküle als älteste und bewährteste Energieträger dürften in der Ursuppe vor rund 4 Milliarden Jahren entstanden sein. Fettspeicherung geht zurück bis zu Fetttröpfchen im Darm von Würmern, den Fettbodies von Dosophila, und als Fettzellen dann ab Karpfen, aber noch nicht im Hai, auch schon mit Leptinsekretion. Braunes Fettgewebe findet sich nicht in Vögeln, aber dann in kleinsten Säugern. Der erste entscheidende Schritt der Energieersparnis gelang mit dem aufrechten Gang vor 8 bis 4 Mio. Jahren, der nachweislich ökonomischsten Fortbewegungsmethode. Der Bewegungsapparat des Menschen ist so günstig gebaut, dass pro Kilogramm Körpergewicht und Meter Fortbewegung um einen Faktor 6 weniger Sauerstoff verbraucht wird, als bei allen anderen Landvögeln oder Landsäugern. Der entscheidende Schritt vollzog sich als Enkephalisation, einem Konvolut aus Garmachung von Nahrung/Feuer, Werkzeuggebrauch und enormem Hirnwachstum vor 1 bis 2 Mio. Jahren (400 ml noch bei Australopithecinen, 800 ml Homo habilis und 1000 ml H. Erectus).
Für Fettleibigkeit gibt es älteste Hinweise aus den altsteinzeitlichen Figurinen, wie der Venus von Willendorf, die etwa 22000 v. C. hergestellt wurde. Sie zeigt eine ausgeprägte gynoide Adipositas, geschätzter BMI 40 kg/m2, die man mit eher als harmlose, da überwiegend subkutan angelegte Adipositas einstufen könnte. In dieser Jäger- und Sammlerzeit war die kalorische Versorgungssituation äußerst mühsam und echte, dauerhafte Überernährung priesterinnen-ähnliche Persönlichkeiten vorbehalten. Erst mit erfolgreichem Ackerbau und Viehzucht sowie der dadurch möglichen Sesshaftigkeit im „Fruchtbaren Halbmond“ war die energetische Grundlage des flächendeckenden Metabolischen Syndroms geschaffen: weite kalorische Wanderungen waren nicht mehr nötig, Kalorien konnten in großen Mengen gezüchtet werden. Mit den sich verdichtenden Menschansammlungen (als älteste Stadt der Menschheit gilt Jericho im Jordantal, ca. 10000 v. C.) und dem Zusammenleben mit domestizierten Wildtieren begann außerdem die „Erfolgsgeschichte“ moderner Infektionskrankheiten (Tuberkulose vom Rind, Pest über die Ratte usw.).
Es folgen die großen adipogenen Erfindungen der Menschheit: das Rad und die Dampfmaschine machen Muskelarbeit obsolet, die Töpferscheibe revolutioniert das Garmachen und Aufbewahren von Nahrung und die landwirtschaftliche Revolution, die im Zuge des Vietnam-Kriegs in den USA zu einer politisch gewollten Überschwemmung der Bevölkerung mit billigen Kalorien aus Maisstärke (in jedem Mars-Riegel!) führte, die bis heute als Ausgangspunkt der Adipositas-Epidemie in den USA und damit verzögert auch im Rest der Welt gesehen wird. In der Wissenschaft versucht man die engen Zusammenhänge von Belohnungssystem und Essverhalten zu verstehen, um Hyperphagie zu bremsen, ohne gleichzeitig Lebensfreude zu nehmen. Evolutionär offenbar so eng gekoppelt, dass es derzeit unlösbar erscheint – bzw. Fortschritt nur in winzigen Schritten passiert. Schneller geht es wissenschaftlich beim Verständnis einer uralten symbiotischen Partnerschaft voran: zwischen Mensch und Bakterien. Das Darm-Mikrobiom mag auch einen Anteil am immer leicht „entzündeten“ viszeralen Fett haben. Das wäre therapeutisch leichter zugänglich. Nicht therapiert werden sollte die urmenschliche Freude am Essen sowie die soziale Komponente von Mahlzeiten. Die intrinsische Kalorieneinspar-Bequemlichkeit des Menschen wird im Zweifel immer dafür sorgen, sich so zu verhalten, dass man mit weniger Energieverbrauch auskommt. Mit den modernen technischen Möglichkeiten sitzen wir daher gerade in einer interessanten adipo- und diabetogene Falle, dem perfekten Nährboden für das Metabolische Syndrom, aus der wir uns aber mit all unserer Schläue auch wieder befreien.
Vorträge am 7.5.2021
Prof. Dr. phil. habil. Klaus Müllen (Mainz)
ehem. Direktor und Wissenschaftliches Mitglied am Max-Planck-Institut für Polymerforschung, Mainz; am 12. April 2019 zum Korrespondierenden Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse gewählt.
Forschungsgebiete: Erforschung der Eigenschaften von Graphen-artigen Nanostrukturen und deren potentielle Anwendungen in der organischen Elektronik.
Ist die Zukunft schwarz ?
Diese Frage nach der Zukunft unserer Gesellschaft zielt nicht auf eine politische Farbe und wartet auch nicht auf Antworten von Analysten. Sie beschwört also kein Endzeitszenario herauf, sie befaßt sich vielmehr mit der zentralen Rolle der Chemie als Lebens- und Technologiegrundlage. Alle modernen Technologien beruhen auf Materialien, man denke an Stahl oder Keramik, aber auch an Kohlenstoffverbindungen. Dazu gehören Kunststoffe und die neue Klasse der Graphene ebenso wie (schwarze !) Kohlenstofffasern und Ruß („carbon black“).
Kunststoffe, aus Kohlenstoffbausteinen synthetisierte Makromoleküle, gelten manchen als Symbol unserer Wegwerfgesellschaft und werden als „Plastik“ abgewertet, aber ihre Rolle als Problemlöser bleibt bestehen. Überzeugende Beispiele werden vorgestellt, ohne dass Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft außer Acht blieben. Graphene sind Honigwaben-artige, atomar dünne Ausschnitte aus dem Graphitgitter. Sie gelten fast als Wundermaterialien, und ihre faszinierenden Eigenschaften begründen Energietechnologien (Batterien, Brennstoffzellen) und Elektronik (Halbleiter für gedruckte Schaltungen), aber selbst zukünftige Quantentechnologien sind materialabhängig. Schließlich gilt das auch für die Biomedizin, etwa für eine Gentherapie.
Vier Botschaften zum Mitnehmen: 1) Schon immer wurden geschichtliche Epochen nach der Art des vorherrschenden Materials benannt, 2) „Those who control materials, control technologies“ (E. Kobayashi, Panasonic), 3) Materialien muss jemand machen, der Chemiker kann es, und 4) die Zukunft ist nicht schwarz.
Prof. Dr. phil. habil. Philipp Robinson Rössner (Manchester)
Professor (Chair) of Early Modern History, University of Manchester; am 9. Dezember 2016 zum Mitglied des Jungen Forums gewählt, Austritt am 1. November 2020 (aufgrund von Professur-Übernahme).
Forschungsgebiete: Frühneuzeitliche Wirtschafts- und Handelsgeschichte Großbritanniens und Preußens im 18. Jahrhundert sowie Währungsgeschichte des Reiches um 1500.
Wirtschaft – Macht – Geschichte. Neue Perspektiven in der Wirtschaftsgeschichte
Macht und Machtbeziehungen – zentrale Kategorien u. a. in der modernen Soziologie nach Max Weber – haben in der neueren Wirtschaftsgeschichte kaum Berücksichtigung gefunden, und wenn, dann v. a. wenn es um den Kapitalismus, Industrialisierung und Sklaverei geht. Die neue historische Politische Ökonomik hat das Problem zwar unter dem Konzept des state capacity und des fiscal-military state berührt, doch oft auch eng geführt auf Fragen der Governance und inwiefern Staaten und Gemeinwesen und ihre Regierungen oder Herrscher durch autokratische oder inklusive politische und ökonomische Institutionen gebunden gewesen sind und damit potenziell Wirtschaftswachstum zu generieren imstande gewesen sind. Insbesondere die historische Wachstumsforschung und die globale Wirtschaftsgeschichte blenden Probleme gesellschaftlicher, sozialer und geschlechtsspezifisch begründeter Machtasymmetrien oft aus, gleichsam als ob es sich bei Wirtschaftswachstum, Marktprozessen und ökonomischer Entwicklung um gleichsam sterile Entwicklungsprozesse gehandelt habe, die vollkommen frei von gesellschaftlichen Machtasymmetrien geblieben seien. Zwar gibt es, befeuert durch die neuen Monumentalwerke von Thomas Piketty (2014, 2020), eine zunehmende Sensibilisierung auch der vorindustriellen Wirtschaftsgeschichtsforschung hinsichtlich zentraler Kategorien von Ungleichheit und Machtasymmetrien. Doch kommen die meisten Narrative zu Wachstum und Entwicklung zwischen Renaissance und Industrialisierung ohne grundsätzliche Fragestellungen aus; vor allem Märkte und Markthandeln werden oft lehrbuchartig als voll funktionsfähige, transparente und durch rationale Präferenzen der Marktteilnehmer und gleichmäßigen Marktzugang für alle gekennzeichnete Institutionen interpretiert, die ganz einfach „existierten“ und sofort – ohne nähere historische Begründung – als Explanans für weiterführende Fragestellungen verwendet werden, ohne die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass Märkte an sich zunächst der Begründung bedürfen, also ein Explanandum darstellen, bevor sie zum Explanans gewendet und in der vergleichenden Analyse angewandt werden können.
In meinem Vortrag möchte ich anhand der Fähigkeit oder Unfähigkeit über Macht gesellschaftliche und ökonomische Vorteile zu realisieren Möglichkeiten der Perspektivenschärfung und Neufokussierung entwickeln. Dies gilt v. a. im Hinblick auf die vorindustrielle Wirtschaftsgeschichte und die Geschichte der ökonomischen Entwicklung im langen Zeitverlauf, c. 1300–2000. Zentrale Kategorien sind m. E. Begriffe und Konzepte sowie Klassifikationen, d. h. die Möglichkeit des Menschen, sich über Begrifflichkeiten und Kategorien die Natur und ggf. Gesellschaft(en) (Sklaverei, Imperialismus; Herrschaft, Geschlechterdifferenz) dienstbar zu machen und über Begriffe und Semantiken gesellschaftliche Wirklichkeit und die damit verbundenen charakteristischen ökonomischen, sozialen und politischen Asymmetrien zu entwickeln. Dabei wird gesellschaftliche Realität vorzugsweise über Sprache und Semantiken konstituiert, die sich am besten über einen sprach-, begriffs- und ideengeschichtlichen Zugriff entwickeln lassen. Zweitens möchte ich Machtasymmetrien und Ungleichheit am Beispiel der Geschlechterkonstruktion und der sozial und ökonomisch konstituierten Rolle der Frau in der Ideengeschichte der Wirtschaft der Frühen Neuzeit konturieren. Drittens lief eine wichtige Fluchtlinie von Machtasymmetrie und Ungleichheit über den Status des Adels und der Nobilität; ein oft gesellschaftlich und politisch konstituierendes Merkmal vor- und frühindustrieller (Agrar)Gesellschaften, welcher sich oft – zumindest im theoretisch-diskursiven Schriftwerk der Zeit – als das zentrale Hindernis wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung erwiesen hat. Viertens: Protektionismus und kameralistisch-merkantilistischer Handelspolitik als Politik der Freiheit durch Ausübung von Zwang auf andere, und der Möglichkeit nachhaltiges positives Wirtschaftswachstum und Entwicklung zu generieren, durch Verwendung einer proaktiven und wachstumsorientierten und von einem neuen Naturverständnis geleiteten Sichtweise auf Ressourcenmanagement. In der Retrospektive erscheint die Kameralistik oft als autoritätskonforme und auf Zwang beruhende Theorie, welche sich in näherer Betrachtung aber als das Gegenteil erweist, nämlich potenziell eine Theorie zur Genese von Freiheit durch ökonomische Entwicklung.
Methodisch basiert mein Vortrag auf einem Plädoyer für die Begriffs- und Ideengeschichte – Disziplinen, an denen die neuere Wirtschafts- und Kapitalismusgeschichte nahezu unberührt vorbeigezogen sind. Dabei geht es mir nicht um die elitäre (politische) Ideengeschichte à la Koselleck oder Skinner, also die Ideen von Großen Männern und des Weltgeists zu Pferde, sondern um Konzepte und Begrifflichkeiten die v. a. in der Alltagsökonomik des „Gemeinen Mannes“ (und seiner Frau) gründeten. Ohne Verständnis der zentralen Begriffe und Beschreibungskategorien erweist sich jedes Zahlenwerk, jede historisch beschreibende Analyse von Wachstum, Entwicklung oder (globalgeschichtlich) Großer Divergenz usw. als epistemisch vergleichsweise leere und rein deskriptive Analyse
Vorträge am 9.4.2021
Prof. Dr. phil. habil Jens-Dieter Haustein (Jena)
Professor für germanistische Mediävistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; am 13. Februar 2004 zum Ordentlichen Mitglied der Philologisch-historischen Klasse gewählt.
Forschungsgebiete: Germanistische Mediävistik von den Anfängen der deutschen Literatur im 8. Jh. bis zum Ende der Reformationszeit, Wissenschaftsgeschichte.
Erzählte Heiligkeit. Johannes Rothes ‚Elisabethleben‘ zwischen hagiographischen Erzählmustern und landesgeschichtlicher Funktionalisierung
Die befremdlichen Umstände nach dem Tod Elisabeths von Thüringen machten einen Prozess der körperlichen Entrückung der Heiligen nötig. Parallel dazu kam es zu einem Verschriftlichungsprozess ihres Lebens, Wirkens, Sterbens und Heiligwerdens. Der die ganze nachfolgende Elisabeth-Hagiographie prägende Text stammt von Dietrich von Apolda; dieser soll kurz vorgestellt werden. Anschließend wird ein Blick auf das um 1300 entstandene gereimte, hessische Elisabethleben geworfen. Diese Reimdichtung ist noch ganz von der Literatursprache, aber auch der Vorstellungswelt des höfischen Romans geprägt. In den abgewiesenen Alternativen, in der Beschreibung dessen, was Elisabeth gerade verwirft, kommt das Faszinationspotential dieser höfischen Welt in einer gewissermaßen gegenläufigen Bewegung in den Text.
Im Zentrum des Vortrags steht das gut 100 Jahre später entstandene, ebenfalls gereimte ‚Elisabethleben‘ Johannes Rothes. Im Anschluss an seine drei Chroniken versucht Rothe, die heilige Elisabeth gewissermaßen als thüringische Landesmutter zu installieren und arbeitet sich am Skandalon der thüringischen Geschichte, der Vertreibung Elisabeths von der Wartburg, ab. Die Kritik an Rothes ‚Elisabethleben‘, in dem vielerlei erzählt wird, was mit dem Leben Elisabeths nichts zu tun hat, wird aufgriffen und ihr eine funktional orientierte These entgegengestellt.
Prof. Dr.-Ing. Karlheinz Brandenburg (Ilmenau)
Professor für elektronische Medientechnik an der TU Ilmenau und Leiter des Fraunhofer-Institutes für Digitale Medientechnologie in Ilmenau; am 9. Februar 2007 zum Ordentlichen Mitglied der Technikwissenschaftlichen Klasse gewählt.
Forschungsgebiete: Digitale Verarbeitung von Mediensignalen, insbesondere Audio; Psychoakustik; Qualitätsbewertung (Audio- und Videoqualität); Computergestützte Analyse von Audio- und Videosignalen.
Virtuelle Meetings: Wie geht es weiter?
Wir sind mittlerweile übersättigt mit der Nutzung von Zoom, Webex & Co. Nach sechs Stunden am Bildschirm tritt spätestens ein, was mittlerweile als „Zoom-fatigue“ bezeichnet wird. Woran liegt es, dass virtuelle Meetings oft anstrengender erscheinen als reguläre Treffen in einem Raum? Ein wesentliches Element ist die fehlende Natürlichkeit: Die Welt ist auf einen (oft kleinen) Raum zusammengedrängt, der Ton ist in Mono, unsere menschliche Fähigkeit, sich auf Gesprächspartner auch bei Nebengeräuschen konzentrieren zu können (der sogenannte Cocktail-Party-Effekt) hilft deshalb nicht.
Aktuell gibt es Forschungen zu sogenannter Co-Präsenz. Wie in Filmen schon vorgeführt wurde, sitzen einige der Teilnehmer*innen virtuell im Gesprächskreis. Dazu sind sowohl auf der Video- wie auf der Audioseite noch Aufgaben zu lösen. Aktuelle Systeme funktionieren mittels Head-Mounted-Displays. Damit werden synthetisierte Figuren (Avatare) dargestellt, aber ohne echte menschliche Gesichter zu sehen. Was den Ton betrifft, wird aktuell in Mono übertragen, oft auch noch in schlechter Tonqualität.
Was es also braucht und an was weltweit geforscht wird, sind:
- Videoübertragungen, mit denen Personen in 3D dargestellt werden können,
- Tonübertragung und Rendern des Tones so, dass eine plausible Wiedergabe erfolgen kann,
- eine Bedienphilosophie, die es auch nicht technik-affinen Personen leicht macht, die Systeme zu nutzen,
- Übertragungsmethoden, die Unterbrechungen minimieren.
In Ilmenau arbeitet an den Videothemen das Fachgebiet Virtuelle Welten und Digitale Spiele des Kollegen Broll. An den Audiothemen arbeiten mein (früheres) Fachgebiet sowie die Brandenburg Labs GmbH. Das Audiothema ist deutlich schwieriger, als es erscheint. Seit vielen Jahren wird an der realitätsnahen Wiedergabe über Kopfhörer gearbeitet, der große Durchbruch ist aber (zumindest was kommerzielle Systeme angeht) ausgeblieben. Grundlagenforschung zur Funktion von Gehör und Gehirn haben uns erheblich weitergebracht. Mittlerweile gibt es immerhin Labordemos, in denen, wenn ich Kopfhörer aufgesetzt habe und mich im Raum bewege (6DOF, 6 Degrees of Freedom), Klangquellen stabil virtuell im Raum verankert sein können. Dazu braucht es auch detaillierte Information über die Akustik des Wiedergaberaums. Die langfristige Vision wird von uns „PARty“ genannt: Personalized Auditory Reality. Ich trage Kopfhörer, die erst einmal akustisch transparent funktionieren, also den Klang aus der Umwelt nur ändern, wenn ich das will. Das soll so funktionieren wie Brillen, die ja das Sehen nur fördern, aber nicht künstlich wirken. Ich kann aber selektiv (hier wird viel maschinelles Lernen und KI gebraucht) störende Schallquellen leiser machen, erkannte Alarmzeichen laut lassen und mich mit anderen unterhalten trotz eines lauten Störpegels von vielen Leuten.
Vorträge am 12.3.2021
Prof. Dr. rer. nat. habil Stefan Sinzinger (Ilmenau)
Professor für Technische Optik sowie Vizepräsident für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs an der Technischen Universität Ilmenau; am 14. Februar 2014 zum Ordentlichen Mitglied der Technikwissenschaftlichen Klasse gewählt.
Forschungsgebiete: Entwurf, Fabrikation, Integration, Charakterisierung und Anwendung optischer Bauelemente und Module, Freiform Optik, optische Mikrosysteme.
Resonanz – Funktionsprinzip für innovative optische Systemlösungen
Licht ist ein elektromagnetisches Wellenphänomen. Als solches unterliegt es den typischen physikalischen Wellenphänomenen wie Beugung und Interferenz. In der Tat dominieren diese Effekte die Funktionalität nahezu aller (wellen-)optischer Bauelemente und Systeme. Besondere Bedeutung nehmen dabei auch sog. Resonanzeffekte ein. Mit selbstverstärkenden Rückkoppeleffekten ist eine extreme Konzentration der Energie in den elektromagnetischen Wellenfeldern möglich, die von grundlegender Bedeutung für die zahlreichen spektakulären Erfolge und technologischen Durchbrüche ist. In dem Beitrag werden die grundlegenden physikalischen Zusammenhänge diskutiert. Die Leistungsfähigkeit resonanter Bauelemente in optischen Systemen wird für Anwendungen in der Messtechnik und Bildgebung illustriert. Bei der technologischen Realisierung resonanter optischer Bauelemente stehen auch Verfahren der Mikro- und Nanostrukturierung im Zentrum des Interesses. Spezifisch optimierte Herstellungsverfahren werden in diesem Zusammenhang zur Sprache kommen.
Prof. Ph.D. Bill S. Hansson (Jena)
Direktor und Wissenschaftliches Mitglied der Abteilung für Evolutionäre Neuroethologie am Max-Planck-Institut für chemische Ökologie Jena; Honorarprofessor in Evolutionärer Neuroethologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; am 12. Februar 2010 zum Ordentlichen Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse gewählt.
Forschungsgebiete: olfaktorisches System, neuroethologische Ereigniskette, Wechselwirkungen zwischen Insekten und Wirtspflanzen.
Smelling to Survive – Insect Olfactory Neuroethology
Insects occur in more or less every possible ecological niche of the Earth. Part of their secret of success is their well-developed senses. For many insects olfaction is absolutely crucial for survival and reproduction. In my lecture I will provide some striking examples from our research on smell-driven behaviour in fruit flies and moths. How do these animals find food, mates and oviposition sites, while avoiding enemies, pathogens and toxic environments based on olfactory cues? And how has the sense of olfaction evolved to allow such processes? I will provide a few answers to these questions and provide an example of an ongoing project, where we investigate the impact of human activities on insect chemical ecology.