Plenarvorträge 1956

Vortrag am 17.12.1956

Paula Hertwig (Halle), Ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse

Professor für allgemeine Biologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse seit 14. März 1955.

Grundlagen und Bedeutung der Strahlenbiologie

Der Vortrag beschränkt sich im wesentlichen auf die Wirkung von Röntgen- und Radiumstrahlen auf die lebende Masse. Entsprechend der historischen Entwicklung werden zuerst die morphologisch erkennbaren Veränderungen an bestrahlten Zellen, besonders die Kern-und Chromosomenschädigung, behandelt, die häufig zum Zelltod führen. Die relative Unempfindlichkeit des Plasmas gegenüber dem Kern wird hervorgehoben wie auch die gesteigerte Sensibilität des Kerns im Teilungsstadium. Diese besondere Strahlenempfindlichkeit von sich rasch vermehrenden Geweben, wie es z.B. carcinogene Geschwülste, das erythropoetische Gewebe des Knochenmarks, das generative Gewebe der Geschlechtsorgane oder embryonale Stadien sind, ist von praktischer Wichtigkeit. Dadurch wird Verständnis gewonnen sowohl für die Möglichkeiten der Krebstherapie als auch für die infolge von Bestrahlungen auftretenden Gesundheitsschäden, wie Anämien, Sterilität, und besonders auch für die Gefahren von Bestrahlungen während der Schwangerschaft. Versuche über die Mißbildungen, die bei strahlenexponierten Säugetierembryonen auftreten, werden verglichen mit dem Verlauf der Schwangerschaft bei Frauen nach Atombombenexplosionen. Zu den nicht unmittelbar erkennbaren Strahlenschädigungen gehören die Mutationsvorgänge. Es steht fest, daß Bestrahlungen die Mutationsrate erheblich erhöhen. Neue Mutationen setzen im allgemeinen die Lebensaussichten der Mutationsträger herab. Daher sind die Forderungen der Genetiker, die Keimdrüsen des Menschen nach Möglichkeit zu schützen, nicht außer acht zu lassen und dementsprechend die Vorschriften für die Toleranzdosen zu gestalten. Über den primären Vorgang der Strahlenwirkung wird noch diskutiert. Der bedeutendste Versuch, die Strahlenwirkung auf die Zelle zu erklären, ist die bereits 1922 von P. Dessauer entwickelte „Depot“-oder „Treffer“-Theorie. Ihr zufolge handelt es sich um einen atomaren Vorgang, um die Absorption von Strahlungsenergie in einem lebenswichtigen Bezirk der Zelle.

Heute wird die Treffer-Theorie ergänzt durch die Mitberücksichtigung der chemischen Strahlenwirkung, die die Entstehung von schädigenden Radikalen postuliert, durch die Enzyme wirkungslos gemacht werden können und Eiweißkörper wie auch Nucleinsäuren denaturiert werden. Diese neuen Erkenntnisse eröffnen das Verständnis für Strahlenschutzbehandlungen durch Sauerstoffmangel, durch Temperatursenkung und Substanzen, die das Oxydations-Reduktionsgleichgewicht der Zellen verändern.

 

 

Vortrag am 17.12.1956

Siegfried Morenz (Leipzig), Ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse

Professor für Ägyptologie an der Karl-Marx-Universität Leipzig, Ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse seit 14. März 1955.

Ägyptische Trinitäten. Ihre Voraussetzungen und ihr Fortwirken

Die Gruppierung von Gottheiten zu Triaden ist bei beträchtlicher Verschiedenheit der Anlässe und Erscheinungsformen ein über die Welt hin verbreiteter Brauch. Der spezifische Fall, daß solche Triaden in der Sprache des Glaubensdenkens in trinitarischem Sinne zur Einheit verbunden sind, wird sehr viel seltener angetroffen. Die ägyptischen Theologen aber haben ihn häufig ausgebildet. Zeugnisse reichen von der ältesten religiösen Literatur bis zur römischen Kaiserzeit (jetzt auch im Gewand griechischer Sprache), und ihrem Wesen nach sind die bezeugten Trinitäten nicht einheitlich. Sammlung und Ordnung des Materials erlaubt mindestens folgende Gruppierung: 1. Stellvertretende Trinitäten (Drei als Repräsentation der Vielheit überhaupt). 2. Trinitäten des Werdens (Einheit von Urgott und erstem geschaffenem Paar). 3. Modalistische Trinitäten (dreifache Spaltung und Wiederverklammerung eines Gottwesens), 4. Trinitäten der Göttergleichung (gleichzeitige Identifizierung von drei Göttern, namentlich zum Zwecke der Machtsteigerung). Eventuell ist 5. eine Trinität der Generationen anzufügen. Mit Ausnahme von Nr. 2, die ihrer Art nach auf trinitarischen Ausdruck beschränkt ist, erweisen sich die Gruppen als Sonderfälle allgemeiner Anliegen der ägyptischen Theologen, als deren Grundproblem der Ausgleich zwischen Vielheit und Einheit des historisch gewordenen Pantheons erscheint (Nr. 1 und 4) und denen auch das Phänomen der Götterspaltung nicht fremd ist (Nr. 3). Die innerlich vielfältigen und numerisch beträchtlichen Trinitäten können daher als typische Äußerungen ägyptischen Glaubensdenkens begriffen werden. Dagegen zeigt ein Rundblick über die alte östliche Mittelmeerwelt, daß dort Trinitäten nicht ausgebildet wurden. Aus dem Zweistromlande, wo die religionsgeschichtlichen Voraussetzungen dafür gegeben wären, sind sie jedenfalls nicht bezeugt, auch aus Syrien nicht. Für Israel und das Judentum können sie von vornherein nicht erwartet werden, ebensowenig für die Griechen vor Hellenismus und Spätantike, wo die Philosophie säkularisiert und aus dem Dienst des Götterglaubens gerückt war. So wird der Frager nach Elementen der christlichen Trinität auf Ägypten gewiesen. Die Frage selbst ist notwendig, weil es zwar eine biblische Substanz der Trinität gibt, nicht aber Vorstellung oder Begriff oder Problem der Dreieinigkeit selbst samt den alles eher als selbstverständlichen Voraussetzungen dafür (Gewohnheit der Anliegen und Denkbahnen). Für eine Einwirkung Ägyptens läßt sich ein Weg historisch plausibel machen (Lebendigkeit der altägyptischen Theologie in der Kaiserzeit und Bedeutung Alexandriens für die frühchristliche Theologie; keine Sprachschwierigkeiten usw.). Auch kann ein ägyptischer Beitrag zur christlichen Trinität in zahlreiche, freilich bescheidene Gaben Ägyptens an die Bibel (auch an das Neue Testament!) eingebettet werden.

 

 

Vortrag zur Öffentlichen Sitzung am 17.11.1956

Gustav Hertz (Leipzig), Ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse

Professor für Physik an der Karl-Marx-Universität Leipzig, Ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse seit 25. Januar 1955.

Die Wahrscheinlichkeit in der Physik

Zunächst wurde der Begriff der Wahrscheinlichkeit an einigen Beispielen aus dem täglichen Leben erläutert. Der Begriff der mittleren Schwankung wurde an dem Beispiel der Verteilung fallender Regentropfen auf mehrere im Freien aufgestellte Eimer gleicher Abmessungen erklärt. Die mittlere Schwankung ist gleich der Wurzel aus der mittleren Gesamtzahl. Das bedeutet, daß die relative Schwankung umgekehrt proportional dieser Wurzel ist. Infolgedessen ist der prozentuale Unterschied zwischen den Zahlen der in die einzelnen Eimer gefallenen Regentropfen am Anfang sehr groß. Sind aber nach längerer Zeit die Eimer fast voll, so ist ein Unterschied nicht mehr zu erklären, denn wenn jeder Eimer durchschnittlich 100 000 Tropfen enthält, so beträgt die mittlere Schwankung nur noch 3 Promille. Die Verteilung der Einzelwerte um den wahrscheinlichsten Wert wurde mittels eines Galtonbrettes demonstriert. – In der Physik spielt die Wahrscheinlichkeit eine Rolle zunächst in der statistischen Mechanik, in welcher das Verhalten eines aus einer außerordentlich großen Zahl von Einzelteilchen zusammengesetzten Systems nach der statistischen Methode behandelt wird. Der statistische Charakter der Erscheinung tritt hervor, wenn zu sehr kleinen Bereichen übergegangen wird, in welchen die Teilchenzahl nicht mehr so groß ist. Beispiele sind die Brownsche Molekularbewegung von kolloidalen Teilchen und die Entstehung des blauen Himmelslichtes. In beiden Fällen handelt es sich um so kleine Abmessungen, daß die statistischen Schwankungen vom Druck bzw. Brechungsindex eine Rolle spielen. Auch bei den Elektronenröhren machen sich die Schwankungen des korpuskularen Elektronenstromes als störendes Rauschen bemerkbar. Eine noch fundamentalere Rolle spielt der Begriff der Wahrscheinlichkeit in der modernen Atomphysik. Es hat sich gezeigt, daß die Begriffe der klassischen Mechanik für die Behandlung der atomaren Vorgänge nicht mehr ausreichen. An ihre Stelle ist die Wellenmechanik getreten, welche nicht mehr bestimmte Werte für Ort und Geschwindigkeit eines Teilchens zu einer bestimmten Zeit anzugeben gestattet, sondern nur die Wahrscheinlichkeit dafür, das Teilchen in einem bestimmten Zustand anzutreffen. Wie der radioaktive Zerfall, so werden fast alle kernphysikalischen Vorgänge durch Wahrscheinlichkeiten bestimmt. Dies wurde an Hand von einigen Beispielen erläutert.

 

 

Vortrag am 22.10.1956

Albrecht Peiper (Leipzig), Ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse

Professor für Kinderheilkunde an der Karl-Marx-Universität Leipzig, Ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse seit 1. März 1955.

Bilder aus der Geschichte der Kinderheilkunde

Da eine zusammenhängende Darstellung der Geschichte der Kinderheilkunde in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu geben ist, werden an Hand von zeitgenössischen Bildern einzelne Sonderfragen besprochen, z. B. das Zeitalter der magischen Medizin im alten Ägypten und Babylonien, Kinderpflege im Ausgang des Mittelalters, Schulleben, Findelhaus, Kinderkleidung. Kinderwagen. Der Redner verzichtet auf den Druck in den Akademieschriften, da der Vortrag zum Teil schon veröffentlicht wurde.

 

 

Vortrag am 22.10.1956

Heinz Ladendorf (Leipzig), Ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse

Professor für Kunstgeschichte an der Karl-Marx-Universität Leipzig, Ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse seit 4. März 1955.

Die Motivkunde und die Malerei des 19. Jahrhunderts (mit einer Bemerkung zu einem nachgelassenen Manuskript von L. Volkmann)

Ausgehend von der ausführlichen Formbeschreibung eines Werkes wird gezeigt, daß die Komposition eine Form und Inhalt zugleich umfassende Ordnung ist. Aus der Beobachtung von Einzelmotiven in verschiedenen Bildern wird eine Semasiologie der Motive gefordert, die das ganze Bedeutungsfeld ins Auge faßt. Sie bietet zur Formbetrachtung die notwendige Ergänzung, um zu einer allgemeinen Stilgeschichte vorzudringen, die das Gesamte eines Kunstwerkes analysieren kann. Die Motivkunde wird als besondere Untersuchungsart neben der christlichen Ikonographie, der weltlichen Ikonographie, der historischen Bildkunde und der sachkundlichen Bildkunde verschiedener Gebiete definiert. An Beispielen für die Motive des Wanderers, des leeren Zimmers, des offenen Fensters, des Zirkuslebens usw. werden abgekürzte Motivgeschichten vorgeführt. Gegen die kunstpsychologische, ad hoc einsetzende Analyse wird eine historische Motivkunde gefordert, die geeignet ist, auch für Bildinhalte des 19. und 20. Jahrhunderts die Dichtigkeit des kulturellen Zusammenhanges und die Herkunft neu gefaßter Motive aus der geschichtlichen Tiefe der Kultur zu erweisen. Die Vereinzelung von Sinnzeichen in der neueren Kunst wird am Beispiel ,Der Stiefel‘ von van Gogh und entsprechenden Zeichnungen von W. Busch und C. D. Friedrich im Vergleich mit Äußerungen Goethes in das 19. Jahrhundert zurückverfolgt. Die Motivbildung und die Lebensgeschichte von Motiven wird aus der Analyse der Wasserblasen auf ,Petri Fischzug‘ (1444) von Konrad Witz als Darstellung des antiken Themas ,homo bulla‘ im Zusammenfall von Naturbeobachtung und Sinn bis zur Seifenblase als Sinnbild der Vergänglichkeit verfolgt, woraus sich Aufschlüsse für die Frage des Realismus und des in ihm ,Gemeinten‘, der Lehre von den Gegenständen der bildenden Kunst und des Verhältnisses von Natur und Kunst ergeben. Auf die Bearbeitung einer Anzahl von Motiven im Kunsthistorischen Institut Leipzig wird verwiesen. Für die Erforschung der Herkunft von Motiven und ihrer gemeinsamen Lebenswelt wird die bearbeitende Herausgabe (zusammen mit S. Morenz) eines nachgelassenen Manuskripts von L. Volkmann über die Wirkungen ägyptischer Kunst für nutzbringend gehalten. Über die methodischen Möglichkeiten der motivkundlichen Untersuchung gibt eine anhangsweise Zusammenstellung von Arbeiten dieser Forschungsrichtung Auskunft.

 

 

Vortrag am 7.5.1956

Karl Bischoff (Halle), Ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse

Professor für Deutsche Philologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse seit 14. März 1955.

Zur Geschichte des Niederdeutschen südlich der ik/ich-Linie zwischen Harz und Saale

Unverschobene Orts-und Flurnamen in Urkunden lassen annehmen, daß sich die hochdeutsche Lautverschiebung in den Mundarten südlich von Unstrut und Helme bis ins 12. und 13. Jahrhundert hinein noch nicht durchgesetzt hat. Die aus diesen nordthüringischen Gebieten ostwärts über die Saale ziehenden Siedler haben mit typisch thüringischen Flurnamen ein nichtverschiebendes Thüringisch mitgenommen. Aus sprachlichen Gründen braucht an der nordthüringischen Heimat Heinrichs von Hesler nicht gezweifelt zu werden. Nichtdurchgeführte Lautverschiebung ist zunächst kein Kennzeichen des Niederdeutschen, sie wird dazu erst, als sie sich in ihrer Südnordbewegung an der Südgrenze bestimmter nordseegermanischer Eigentümlichkeiten fängt. Bis zur Unstrut ist eine Gruppe nordseegermanischer Merkmale nachweisbar. Die Grenze zwischen Sund und Suden fällt im 10. Jahrhundert mit der Grenze zwischen Sachsen und Thüringen zusammen, die aber nicht als Stammesgrenze zu werten ist. Diese Südgrenze des Sächsisch-Niederdeutschen und Nordgrenze des Thüringisch-Mitteldeutschen wird von Norden und von Süden her aufgebaut. Früh greifen südliche Einflüsse über sie hinweg. Jahrhunderte nach der Aufgabe des Niederdeutschen in den Kanzleien wird in der Landschaft noch niederdeutsch gesprochen. Zu Luthers Zeit war in Eisleben das Niederdeutsche noch Schulsprache, und nach Luther ist es im Mansfeldischen noch als gesprochene Sprache bezeugt. In den niederdeutschen Szenen mansfeldischer Dichter wird es sogar greifbar.

 

 

Festvortrag zur Öffentlichen Sitzung am 14.4.1956

Friedrich Behn (Leipzig), Ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse

Professor für Vor- und Frühgeschichte an der Karl-Marx-Universität Leipzig, Ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse seit 14. Februar 1949.

Die Entstehung des deutschen Bauernhauses

Der Vortragende trat von der Vorgeschichte an die von der Volkskunde nicht berücksichtigten Probleme der Früh-und Vorformen, der Entstehungszeit und der wirtschaftlichen Bedingtheit der Bauernhaustypen heran. Die von Otto Lauffer gewonnene Erkenntnis, daß das „niedersächsische“ Bauernhaus keine Schöpfung der Sachsen war, sondern daß sie es bei der Landnahme ihrer historischen Sitze bereits fertig ausgebildet vorgefunden haben, wurde an der Entwicklungsgeschichte der anderen Typen nachgeprüft. Das niederdeutsche „Einheitshaus“, das alle Teile des bäuerlichen Wirtschaftsbetriebes, Mensch und Vieh, unter einem gemeinsamen Dache vereinigt, ist in völlig gleicher Raumgliederung durch Ausgrabungen in den Nordseemarschen bereits für vorgeschichtliche Zeiten belegt (Ezinge in Holland: 5./4., Einswarden bei Bremerhaven: 1. Jahrhundert vor, Hodorf in Dithmarschen: 3. Jahrhundert n. Chr.), ist somit vor-sächsisch. Im Mittelalter wird es in den Marschen durch den solideren Steinbau ersetzt. – Im Gegensatz zum „Niederdeutschen“ Gehöft sind im „Fränkischen“ die einzelnen Wirtschaftsteile in besonderen Räumen untergebracht und in Hufeisenform um einen offenen Hof gruppiert. Das ist eine Bauform des Mittelmeergebietes, die schon in der älteren Eisenzeit in die Länder nördlich der Alpen gelangte (in Buchau am Federsee ist ein ganzes Dorf nach diesem System erbaut). Mit der römischen Okkupation kam der Bautyp als „villa rustica“ in großen Mengen ein zweites Mal in die nordischen Provinzen mit mancherlei Variationen (reiner Meierhof, Luxusvilla) und wurde später von den Franken übernommen. In Franken und Hessen und vielfach darüber hinaus bestimmt das fränkische Gehöft noch heute das bauliche Bild der Dörfer. – Das artbildende Merkmal des „ostdeutschen“ (tatsächlich viel weiter nach Osten und Südosten verbreiteten) Bauernhauses ist die „Laube“, entweder als Ecklaube aus dem Baukörper des Hauses herausgeschnitten oder an einer der Seiten frei aus der Wandflucht vorspringend. Im selben Verbreitungsgebiet und mit gleichfalls größerer Variationsbreite begegnet das Laubenhaus seit der jüngeren Steinzeit durch alle Perioden und somit unabhängig von jeder stammlichen Bindung und allein geographisch-wirtschaftlich bedingt. Eine Ausnahme macht allein das „nordische“ Bauernhaus vom Typus des noch heute in Norwegen gebauten stolpebod: Blockhäuser auf Tragpfählen frei über dem Erdboden stehend, mit Steinscheiben zwischen den Stelzen und den Unterzügen des Fußbodens und Unterbrechung der Treppe um mehrere Stufen, um dem Ungeziefer des Feldes den Zutritt zu verwehren. Genau dieselbe Bauart zeigen Hausurnen aus Steinkistengräbern um die Mitte des letzten vorchristlichen Jahrtausends von der Weichselmündung, und in Spanien stehen noch heute völlig entsprechende Feldspeicher. Eine so hochgradig spezialisierte Bauform kann nicht unabhängig an verschiedenen Stellen entstanden sein. Gleichheit von Klima oder Wirtschaft scheidet aus, es muß so nach eine Stammesform sein, wofür nach der Verbreitung der Häuser und den geschichtlichen Vorgängen nur die Wandalen in Frage kommen können. Die Herleitung der Bauernhaustypen aus wirtschaftlichen Voraussetzungen unter Ausschluß ethnischer Einflüsse wird bestätigt durch die Feststellung, daß bereits in der Steinzeit, und sogar in derselben Kultur, im Osten die Rundlings-, im Westen die Reihensiedlung geübt wurde.

 

 

Vortrag am 12.3.1956

Ernst Hölder (Leipzig), Ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse

Professor für Mathematik an der Karl-Marx-Universität Leipzig, Ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse seit 1. Juli 1948.

Zur Geschichte der Potentialtheorie

Von der Entwicklung der Potentialtheorie wird ein geschichtlicher Überblick gegeben, der die Ergebnisse der an der Universität Leipzig und der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig tätigen Forscher besonders betont: H. Bruns, C. Neumann, F. Klein, O. Hölder, G. Herglotz, L. Lichtenstein, P. Koebe. Auch die Wechselbeziehungen der Potentialtheorie zu Anwendungsgebieten in der mathematischen Physik, insbesondere zur Strömungslehre, werden hervorgehoben.

 

 

Vortrag am 12.3.1956

Heinrich Besseler (Leipzig), Ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse

Professor für Musikwissenschaft an der Karl-Marx-Universität Leipzig, Ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse seit 14. März 1955.

Das musikalische Hören der Neuzeit

Hugo Riemann hat erkannt, daß Musikhören „nicht nur ein passives Erleiden von Schallwirkungen im Hörorgan, sondern die Betätigung logischer Funktionen des menschlichen Geistes“ ist, wofür 1915 als Zentralbegriff die ,Tonvorstellung‘ eingeführt wurde. Prüft man heute diese Theorie, so zeigt sich zwar ihre Begrenzung, aber auch ihr historisch gesicherter Wahrheitskern. Riemanns aktivsynthetisches Hören entspricht genau dem, was sich in der europäischen Kunstmusik der Neuzeit herausgebildet hat, um gegen 1800 in der Klassik zu gipfeln. Im 16. Jahrhundert beruhte die Musik auf dem Klangstrom polyphoner Stimmen, wobei die ungebundene Prosamelodik für den Hörer stets Neues brachte. Seit Beginn des 17. Jahrhunderts wird der Akzentstufentakt mit Korrespondenzmelodik maßgebend, so daß nun als Baustein überall das Einzelglied hervortritt, die Musik sich also dem Hörer gliedhaft-rational darbietet. Sein tätiges Mitgehen steigert sich während der Bach-Händel-Epoche im Halbsatz-Aufbau vieler Teilglieder, was auf Synthesis beruht und im europäischen Volkslied verwurzelt ist. Aus dem europäischen Tanz hat der Einheitsablauf vielfach auf die Kunstmusik eingewirkt, vor allem auf die Anlage des Satzes, engl. movement. Mit dem Thema entsteht im 18. Jahrhundert das musikalische Sprachmittel der Individualität, maßgebend für den Charakter der freien Instrumentalmusik. Ihre Großform beruht bald auf der Achttaktperiode, die zum naturgegebenen Baustein wird, bestätigt vom Kontertanz und seiner Tourenfolge. Riemanns Deutung der Klassik trifft also Wesentliches, denn die Musik beruht hier kategorial, ihrer Seinsart gemäß, auf aktiv-synthetischem Vollzug. Aber in diesem Punkt hat das 19. Jahrhundert einen Umschwung gebracht, den Riemann außer acht ließ. Schon 1792 empfand Mackenroder völlig passive Hingabe als den Hauptweg zur Musik, das Religiöse als ihren Mittelpunkt. Für E. T. A. Hoffmann waren die a-cappella-Chöre 1808 ein Sinnbild der Transzendenz, was den Weg zur Palestrina-Renaissance öffnete. Vor allem fand Schubert seit 1814 im Lied, Weber seit 1821 in der Oper neue Mittel für das Stimmungshafte, für die Naturund Geisterwelt. Sie setzen voraus, daß man sich der Musik mehr passiv hingibt und von ihrem Strome tragen läßt. So kennt das 19. Jahrhundert zwei Zugangsweisen zum Kunstwerk, die sich fundamental widersprechen.

 

 

Vortrag am 20.2.1956

Kurt Mothes (Halle), Ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse

Professor für Botanik und Pharmakognosie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse seit 10. Mai 1954

Das Altern der Blätter

Das Altern und Absterben der Laubblätter ist kein einheitliches Phänomen und kann verschiedene Ursachen haben. Bei zahlreichen einmal blühenden Pflanzen (z.B. Getreide, Tabak) gehen unter dem Einfluß des Blühens eine Hemmung der Photosynthese und eine Minderung der Aktivität der Wurzel bei der Stoffaufnahme und Stoffassimilation vor sich. Diesen Aktivitätsminderungen folgt eine Entleerung der Blätter, insbesondere an Eiweiß, zugunsten des Aufbaues der Früchte. Man kann dieses Absterben verzögern durch Besprühen der Blätter mit Stickstoffverbindungen oder durch Abschneiden der Blüten. Man kann es aber nicht völlig unterbinden. Von der Mutterpflanze isolierte Blätter sterben schneller ab als an der Pflanze befindliche. Dies beruht auf einer Ableitung von Eiweiß-Spaltprodukten in die Blattstiele und in die Nervatur, so daß die Parenchyme der Blattspreite ebenfalls an Eiweißmangel zugrunde gehen. Man kann diese Entwicklung hemmen durch Besprühen der isolierten Blätter. Noch wirkungsvoller kann man den Tod lange hinausschieben durch Bewurzelung der abgeschnittenen Blätter, wobei die Wurzeln keinerlei Berührung mit einer Nährlösung haben müssen. Sie wirken durch ihr bloßes Dasein und nicht auf dem Wege über die Stoffaufnahme. Die Wurzeln spielen für die Erhaltung der Vitalität eines Blattes die Rolle eines unerläßlichen Vermittlers in einem ständig stattfindenden Stoffkreislauf. Die Stoffe können auf unmittelbarem Wege zwischen verschiedenen Teilen einer Blattspreite nicht oder nur schwer kommunizieren, auf dem Wege über die Wurzel aber leicht. Kultiviert man isolierte Blätter nach Bewurzelung in Nährlösungen, kann man das Leben eines Blattes auf das Vielfache der normalen Dauer verlängern. Aber auch solche Blätter sterben eines Tages. Die Ursache scheint dann in Blattvergiftungen zu liegen, die weniger auf der eigenen Stoffwechselleistung beruhen, sondern auf einer Produktion von spezifischen Wurzelstoffen, die im Blatt allmählich angereichert werden. So können isolierte Tabakblätter mehr als das Zehnfache des normalen Nikotingehaltes aufweisen, isolierte Bohnenblätter mehr als das Hundertfache des normalen Allantoingehaltes usw. Starkes Licht fördert das Altern der Blätter. Eine mäßige Ernährung und schwache Beleuchtung lassen den Stoffwechsel so bremsen, daß es zu einer außerordentlichen Verlängerung der Lebensdauer kommt. Solche Blätter wachsen ständig weiter durch Zellvergrößerung, in den Wurzeln auch durch Zellteilung. Hört das Wachstum auf, scheint auch der Tod unausbleiblich zu sein. Selbst stark vergilbte Blätter, die nach herkömmlicher Ansicht zum Tode verurteilt sind, können durch Besprühen und Wurzelbildung wieder gesunden. Vergleiche zum Altern von Organismen geschlossener und offener Organisation werden gezogen.

 

 

Vortrag am 20.2.1956

Kurt Aland (Halle), Ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse

Professor für Kirchengeschichte und christliche Archäologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse seit 14. März 1955

Der Lebensausgang des Paulus

Die Frühgeschichte des Christentums wirft eine Fülle von Fragen auf, auf die wir entweder gar nicht oder nur mit Hypothesen antworten können. Das liegt an der Lückenhaftigkeit der uns zur Verfügung stehenden Quellen. In bezug auf Paulus scheint die Lage insofern günstig zu sein, als wir nicht nur eine große Zahl unter seinem Namen überlieferter Briefe besitzen, welche mehrfach autobiographische Angaben liefern, sondern auch den ausführlichen Bericht der Apostelgeschichte. Es erweist sich jedoch, daß auch hier zahlreiche Fragen übrigbleiben. Besonders umstritten ist der Lebensausgang des Paulus. Nicht weniger als 7 unter dem Namen des Paulus überlieferte Briefe sind mit diesem Abschnitt seines Lebens verbunden. Eine kritische Betrachtung zeigt jedoch, daß die sog. Pastoralbriefe nicht von Paulus stammen können; auch die sog. Fragmenten-Hypothese, welche wenigstens Ausschnitte davon Paulus zuschreiben will, besteht zu Unrecht, so daß diese Paulus-Briefe als Quelle für den Lebensausgang des Paulus ausscheiden. Anders steht es mit den sog. Gefangenschaftsbriefen. Zwar ist seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts die traditionelle Annahme ihrer Abfassung am Lebensausgang des Paulus zunehmend bestritten worden, jedoch läßt sich nachweisen, daß die sog. Ephesus-Hypothese nicht haltbar ist und die Gefangenschaftsbriefe sämtlich nach Rom gehören. Die gegen die Rom-Hypothese von Deismann, Michaelis und zahlreichen anderen vorgebrachten Argumente lassen sich als nicht stichhaltig erweisen, was der Vortrag im einzelnen darlegte. Wenn nun diese Briefe in Rom geschrieben sind, so geht aus ihnen hervor, daß die Gefangenschaft, von welcher uns der Schluß der Apostelgeschichte berichtet, mit der Freilassung des Paulus geendet hat. Eine Untersuchung der zahlreichen Theorien über diesen Schluß der Apostelgeschichte ergibt als mögliches Resultat, daß der Verfasser ursprünglich beabsichtigte, sein Werk durch ein drittes Buch zu ergänzen, eine Absicht, die er nicht mehr hat ausführen können. Mehr als dieses allgemeine Resultat ist jedoch nicht mit einiger Sicherheit zu erreichen. Die Reisepläne in den Osten, welche Paulus in den Gefangenschaftsbriefen vorträgt, scheinen durch die Abschiedsrede in Milet ausgeschlossen. Die Reise nach Spanien fußt allein auf dem Zeugnis des 1. Clem. Alle späteren Nachrichten können aus ihm bzw. den Reiseplänen in Röm. herausgesponnen sein (daß die Auffassung des 1. Clem. den Tatsachen entspricht, ist zwar anzunehmen, aber auch nicht als sicher zu erweisen). Nur soviel ist sicher, daß Paulus in Rom, und zwar wahrscheinlich vor der neronischen Verfolgung, den Märtyrertod gestorben ist. Die Verbindungslinie zum Parallelthema: Der Lebensausgang des Petrus, das methodisch auf manche Weise dem behandelten verbunden ist, konnte nur angedeutet werden, es bleibt einer späteren Behandlung vorbehalten.

 

 

Vortrag am 23.1.1956

Karl Schmalfuß (Halle), Ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse

Professor für Pflanzenernährung und Bodenkunde an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse seit 10. Mai 1954.

Einige systematische Untersuchungen zum Problem der Bodenfruchtbarkeit

In der Einleitung wurde auseinandergesetzt, daß es ohne weiteres möglich ist, Pflanzen in wässerigen Nährlösungen zu kultivieren und sie zur vollen Entwicklung zu bringen, wenn ihnen mit diesen Lösungen die notwendigen Nährstoffe in der geeigneten Form angeboten werden. Das betrifft sämtliche Mineralstoffe, die die Pflanze sonst aus dem mineralischen Anteil des Bodens aufnimmt, sowie auch den Stickstoff, der im Boden nur in der organischen Substanz in organischer Bindung und in Spuren als Ammoniak oder Nitrat vorkommt. Daher bildet die Stickstoffernährung der Pflanze ein spezielles Problem auch der Bodenbiologie und der Humusforschung. In einer Reihe von umfangreichen Umsetzungsversuchen verschiedener Pflanzenmaterialien in natürlichen mineralischen, bodenbildenden Substraten wird gezeigt, daß bei einer Versuchsdauer bis zu 48 Wochen der größte Teil der organischen Substanz durch Bodenmikroorganismen abgebaut wird, wobei, abhängig vom C/N-Verhältnis, der Pflanzenart und dem Pflanzenalter, unterschiedliche Mengen von Ammoniak oder Nitrat gebildet werden. In geringer Andeutung scheinen daneben in den humusfreien Substraten auch echte Humusstoffe im Boden zu entstehen, deren Menge von der Dauer der Umsetzung und den spezifischen Eigenschaften der umgesetzten organischen Stoffe abhängt. Abschließend wurde die Frage der Bodenfruchtbarkeit im wesentlichen in einer optimalen Versorgung der Kulturpflanzen mit Stickstoff aus der organischen Bodensubstanz gesehen, wobei auf die Probleme des heutigen intensiven Ackerbaues mit organischer Düngung, Strohdüngung und langsam wirkenden Stickstoffdüngern hingewiesen wurde. Mit einer historischen Betrachtung über die Auseinandersetzungen zwischen Albrecht Thaer und Justus von Liebig, bzw. Humustheorie und Mineraltheorie, schloß der Vortrag.

 

 

Vortrag am 23.1.1956

Erwin Jacobi (Leipzig), Ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse

Professor für Staatsrecht, Verwaltungsrecht, Arbeitsrecht und Kirchenrecht an der Karl-Marx-Universität Leipzig, Ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse seit 1. Juli 1948.

Freie Wahlen und geheimes Stimmrecht

Es wurde dargetan, daß der Begriff der freien politischen Wahl sich zunächst in England entwickelt hat, hier aber mit öffentlicher Wahl verbunden war. In England, wie in den Vereinigten Staaten, ist erst von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an das geheime Stimmrecht durchgeführt worden. Dagegen hat sich in Frankreich der Begriff der freien Wahl schon am Ende des 18. Jahrhunderts mit der geheimen Abstimmung verbunden; von der Direktorialverfassung 1795 ab wird hier das geheime Wahlrecht verfassungsmäßig festgelegt. Die Entwicklung in Deutschland ist von Frankreich wesentlich beeinflußt. Nach mannigfaltigen Gestaltungen in den vormärzlichen Verfassungen hat die liberale bürgerliche Revolution 1848/49 sich für das geheime Wahlrecht entschieden. Die anschließende Reaktion führte in Preußen das öffentliche Wahlrecht ein. Bismarcks Reichsgründung übernimmt zwar das Frankfurter Wahlgesetz, will es aber mit öffentlichem Wahlrecht verbinden, was durch einen liberalen Antrag im Reichstag verhindert worden ist. Für das Reich hat also geheime Abstimmung, für Preußen öffentliche Abstimmung bis zum ersten Weltkrieg gegolten. Dann ist das geheime Wahlrecht für Deutschland allgemein anerkannt und in der Weimarer Verfassung festgelegt worden. Die Epoche des Nationalsozialismus, eingeleitet durch die Angriffe Carl Schmitts gegen Wahlfreiheit und geheime Abstimmung, läßt die geheime Abstimmung wieder aus dem Verfassungsrecht verschwinden. Erst nach 1945 lebt sie in Deutschland wieder auf.

Termine
Einladung: Kulturerbe Tanz in der DDR 22.01.2025 17:00 - 19:00 — Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Karl-Tauchnitz-Straße 1, 04103 Leipzig
Denkströme

Denkströme IconDas Open Access (Online-)Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften:

www.denkstroeme.de

Diffusion Fundamentals

Diffusion Fundamentals IconInterdisziplinäres Online Journal für Diffusionstheorie in Kooperation mit der Universität Leipzig:
diffusion.uni-leipzig.de

Internationale Konferenzreihe:
saw-leipzig.de/diffusion