Vortrag am 10.12.1993
Joachim-Hermann Scharf (Halle-Wittenberg), Ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse:
„Wo ist Schillers Schädel?“
Schiller verstarb am 9. Mai 1805, seine sterblichen Überreste wurden um Mitternacht vom 11. zum 12. Mai 1805 im sogenannten Kassengewölbe des Weimarer St.Jacobs-Kirchhofes – der Begräbnisstätte für wenig begüterte Aristokraten und höhere Beamte – beigesetzt. Allein um dieses Mitternachtsbegräbnis rankt sich eine Flut von Mystifikationen. Im Kassengewölbe wurden von Zeit zu Zeit die verrotteten Särge und Gebeine im Moder verscharrt, um Platz für neue Bestattungen zu schaffen. Am 22. März 1826 versuchte der damalige Bürgermeister, Carl Leberecht Schwabe, Schillers Skelett aus dem Chaos zu bergen. Als Basis für die Identifikation des Schädels diente die Weimarer Totenmaske (die sogenannte Schwabesche Maske des Bildhauers Klauer) und die Überlieferung, daß Schiller nur ein Zahn im Unterkiefer gefehlt hatte. Unter den 23 gefundenen Schädeln konnte – trotz damals noch unzureichender Identifikationstechnik – der echte Schiller-Schädel gefunden werden, den Goethe in Verwahrung nahm und am 30. Dezember 1826 als einzigem Wilhelm v. Humboldt zeigte. Als am 16. Dezember 1827 das zusammengestückelte Schiller-Skelett in der Fürstengruft beigesetzt wurde, vergewisserte sich Schwabe, daß der von ihm gefundene Schädel im Sarge lag.
Als der hallesche Anatom Hermann Welcker 1883 das von ihm entwickelte geometrische Identifikationsverfahren am Fürstengruftschädel testete, fand er dessen Unechtheit heraus. Dies war in den Jahren 1912/13 für den Anatomen August v. Froriep – Nachfahre des bei der Identifikation 1826 beteiligten Obermedizinalrates Prof. Dr. Ludwig Fr. v. Froriep – eine Herausforderung: Er untersuchte nach abermaliger Öffnung des Kassengewölbes und des Schiller-Sarges der Fürstengruft alle verfügbaren Schädel. Schließlich bestätigte er Welckers Befund der Unechtheit des Fürstengruftschädels, den er dem altweimaraner Bürgermeister Carl Chr. Aug. Paulssen zuordnete, und fand unter den Kassengewölbeschädeln den nach seiner Meinung echten Schiller-Schädel. So wurde in der Fürstengruft hinter einem Vorhang ein zweiter angeblicher Schiller-Sarg aufgestellt. Als nach der kriegsbedingten Auslagerung der Särge Goethes und Schillers Fäulnisschäden am sogenannten Schiller-Sarg festgestellt wurden, erhielten der russische Anthropologe Gerasimov und sein deutscher Assistent Ullrich den Auftrag, den Fürstengruft- mit dem v. Froriepschen Schädel zu vergleichen. Ullrich stellte fest, daß dem Fürstengruftschädel 7 Zähne gefehlt hatten, die durch fremde ersetzt worden waren. Trotzdem erklärten beide den Schädel für echt.
Obwohl allen potentiellen Kontrolluntersuchern von der Regierung der DDR der Zugang zu den Schädeln verboten wurde, gelang es dem Bildhauer Fritz Donges und dem Mediziner Henning Fikentscher – Enkel des Goethe-Freundes Friedrich Christian Fikentscher – durch minutiöse Vergleiche aller Totenmasken und Schädelabgüsse festzustellen, daß sowohl der Fürstengruft- als auch der KassengewölbeSchädel nicht Schiller zugeordnet werden können, sondern daß der echte Schädel in Goethes privater Schädelsammlung aufbewahrt worden ist, wo er freilich bisher vergeblich gesucht wurde.
Vortrag am 10.12.1993
Rudolf von Thadden (Göttingen), Korrespondierendes Mitglied der Philologisch-historischen Klasse:
„Gedanken zur französischen Geschichtsschreibung anhand von Fernand Braudels Werk“
Wie jede Geschichtsschreibung so hat auch die französische ihre eigene Tradition. Sie ist verbunden mit Formen des kulturellen Selbstverständnisses und scheut sich nicht, Lebenswirklichkeiten wie eine Nation zu personalisieren und mit mythischen Elementen aufzuladen. So geht ein französischer Historiker trotz aller Verfeinerung des methodischen Zugriffs zu geschichtlichen Lebenswelten nach wie vor liebevoll mit dem Begriff „La France“ um, während ein deutscher Historiker in der Regel distanziert nüchtern von seinem Lande spricht.
Besonders eindrucksvoll kommt diese Betrachtungsweise in dem letzten großen Werk von Fernand Braudel zum Ausdruck, das der Identität Frankreichs (L’identité de la France) gewidmet ist. Hier wird Geschichte nicht nur zu einem Raum politischer Orientierung, wie dies bei Historikern des 19. Jahrhunderts häufig der Fall war, hier ist sie der überall anwesende Stoff, aus dem sich soziale, mentale und nicht zuletzt auch nationale Prozesse der Identitätsbildung formen. „Eine Nation“, so sagt Braudel unangefochten in der Einleitung zu seinem Werk, „kann nur existieren, wenn sie sich unablässig selber sucht, sich im Sinne ihrer eigenen logischen Entwicklung transformiert, sich gegenüber anderen unnachgiebig zur Wehr setzt, sich mit dem Besten und Wesentlichsten, über das sie verfügt, identifiziert, sich also in Markenzeichen und Losungsworten wiedererkennt, die allen Eingeweihten bekannt sind.“
Noch stärker – und für Deutsche kaum nachvollziehbar – tritt die Fähigkeit Braudels, sich mit Frankreich zu identifizieren, in den ersten Sätzen des Buches hervor, in denen er seine Gefühlsbindung an sein Land betont: „Ich liebe Frankreich mit derselben, gleichermaßen anspruchsvollen und komplizierten Leidenschaft wie Jules Michelet, ohne zwischen Tugenden und Schwächen zu unterscheiden, zwischen dem, was mir mehr, und dem, was mir weniger gefällt.“ Hier sind elementare Gefühle im Spiel, denen die wissenschaftliche Arbeit abgerungen werden muß.
Und doch geht Braudels Werk weit über Michelets nationalpoetische Geschichtsschreibung hinaus. Frankreich ist für ihn kein einfacher Gegenstand, keine „Person“ mehr, sondern eine „Vielzahl von Realitäten und Individuen, die sich kaum durch den roten Faden einer [in kurzen Zeitabständen denkenden] chronologischen Geschichtsschreibung verknüpfen lassen“. Die Nation ist eine historische Formation, die sich in einer Art von geologischem Entwicklungsprozeß durch Ablagerungen, Amalgamierungen und Vermengungen gebildet hat.
Hier wird deutlich, in welcher Absicht Braudel sein Werk über die Identität Frankreichs geschrieben hat. Es geht ihm nicht um kurzfristige, „ereignisgeschichtliche“ Zusammenhänge, um eine Aufreihung von mehr oder weniger beziehungsreichen Begebenheiten, sondern um eine Geschichte der „longue durée“, der langen Dauer, in der die „Ströme des Unbewußten“ und die Masse des im dunklen Gebliebenen ebenso aufgehoben sind wie die sichtbar bewegenden Kräfte.
Und was für eine „longue durée“ steht vor Braudels geistigem Auge! Nicht nur die Jahrhunderte des sich Frankreich nennenden historischen Gebildes, sondern auch die langen Zeiträume des vorfränkischen, ja vorrömischen Gallien, die weitgehend im dunkeln liegende Welt der sogenannten Vorgeschichte beschäftigen den auf eine „histoire totale“ aller Lebensbereiche zielenden Gelehrten. In den drei Bänden des monumentalen Werks geht es um langfristige Bevölkerungsbewegungen, um Demographie und Strukturen der politischen Ökonomie. Die Wirklichkeiten, die nicht sprechen können, stehen im Vordergrund des Interesses.
Es nimmt nicht wunder, daß bei einer so umfassend angelegten Geschichte auch die Geographie einen wichtigen Platz einnimmt. Über das in der französischen historiographischen Tradition Übliche hinaus gibt Braudel der Geographie Frankreichs jedoch eine Bedeutung, die aufmerken läßt: Der ganze erste Band ist dem Thema „Raum und Geschichte“ gewidmet. Warum? Was sind die Beweggründe des Autors? „Die Geographie“, so heißt es im Vorwort zu diesem Band, „ … bietet uns ihre Einsichten und Erklärungen für die Beziehungen zwischen Gestern und Heute an. Der Boden, das Milieu, die Umwelt, das Öko-System, all dies sind Begriffe, die ihren Beitrag bezeichnen, und die Überlegungen, die sie uns nahebringt, sind ebenso hilfreich wie die reichhaltigsten Archivalien.“ Geographie ist hiernach also keine invariable Gegebenheit; im Gegenteil, sie ist mit Geschichte gesättigt und schließt ein, was wir heute „Lebenswelt“ nennen würden. „Denn die Landschaften und Räume“, so Braudel, „sind nicht nur gegenwärtige Realitäten, sondern auch und in sehr starkem Maße Überreste der Vergangenheit … Die Erde ist wie unsere Haut dazu verurteilt, die Spuren unserer vergangenen Verletzungen zu bewahren.“
Am deutlichsten wird diese Sicht der Dinge in dem Kapitel über „Die Grenzen als historischer Testfall“, in dem Grenzziehungen nicht einfach als staatliche Willkürakte, sondern als von der Natur vorgezeichnete Furchen erscheinen. Ohne daß Braudel in die alte französische Theorie von den „natürlichen Grenzen“ verfällt, kommt er doch zu Aussagen, die nach den Erfahrungen von territorialen Verschiebungen im 20. Jahrhundert stutzig machen. Tendiert die Geschichte wirklich dazu, „Grenzen so zu verankern, als ob es sich um Naturphänomene handelte“? Aber die „histoire totale“ hat ihre Preise.
Vortrag am 19.11.1993, Öffentliche Gesamtsitzung
Christian Hänsel (Leipzig), ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse:
„Sächsisch-thüringische frühe Beiträge zur Wetter- und Klimakunde“
Unter Auswertung von zeitgenössischer Literatur und von Archivmaterial werden für die Wissenschaftsentwicklung der Wetter- und Klimakunde bedeutsame Leistungen aus dem 18. und 19. Jahrhundert im sächsisch-thüringischen Raum dargestellt und gewertet. Diese Leistungen liegen in der Einrichtung von Meß- und Beobachtungsnetzen, der physikalischen Interpretation von Beobachtungen und dem schrittweisen Erkenntnisgewinn zur Physik der Atmosphäre. Besonders herausgestellt werden die Verdienste von W. G. Lohrmann und von Carl Bruhns um Aufbau und Leitung sächsischer Beobachtungsnetze, bei Bruhns auch um die Gründung der Internationalen Meteorologischen Organisation. Mit seiner hervorragenden Monographie ,,systematischer Grundriß der Atmosphärologie“ legt W. A. Lampadius ein Fundament zur Entwicklung einer physikalischen Wetterkunde (Freiberg 1806), und H. W. Brandes begründet (um 1820) die Methode der synoptischen Meteorologie, liefert die erste synoptische Wetterkarte der Welt und interpretiert Erkenntnisse über die Luftdruck-Windfeld-Beziehung. Schließlich leitet F. L. Kämtz mit dem ersten deutschen Meteorologie-Lehrbuch um die Mitte des 19. Jahrhunderts in die moderne Meteorologie über, und der Geologe C. F. Naumann führt über Feststellung von Gletscherschliffen im Leipziger Raum den Nachweis der Inlandvereisung und damit verbundener Klimaveränderungen in geologischer Vorzeit.
Vortrag am 8.10.1993
Uwe-Frithjof Haustein (Leipzig), Ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse:
„Umweltinduzierte Sklerodermie“
Durch eine Reihe von chemischen Substanzen wie u.a. Monomeren von Kunststoffen, Lösungsmitteln und Medikamenten wurden sklerodermieähnliche Krankheitsbilder ausgelöst, durch verunreinigtes Rapssamenöl das sogenannte toxische Öl-Syndrom und durch L- Tryptophan das sogenannte Eosinophilie-Myalgie-Syndrom. Andererseits sind Paraffin und Silikon in der Lage, die sogenannte AdjuvansKrankheit zu induzieren, während durch Langzeitexposition mit Quarz eine echte (teils mit Silikose assoziierte) Sklerodermie entstehen kann. Neben den klinischen Bildern werden einige pathogenetische Daten der Literatur wie genetische Faktoren (HLA, Chromosomenanomalien, Enzymdefizienzen) und die Verstoffwechselung chlorierter Ethylene über reaktive Epoxid-Zwischenprodukte sowie eigene Befunde erörtert. Danach gleicht die Quarz-induzierte der idiopathischen Sklerodermie, was wir auf Grund von epidemiologischen sowie am Gefäß- und Immunsystem sowie Kollagenmetabolismus orientierten Untersuchungen nachweisen konnten. In Zellkulturstudien wurde gezeigt, daß Makrophagen/Monozyten nach Ingestion von Quarz Interleukin-l (IL1), Interleukin-6 (IL6) und Tumor-Nekrose-Faktor (TNF) freisetzen, wodurch letztlich Effekte auf Fibroblasten, T -Helfer- und Endothelzellen zu erwarten sind. Vergleiche aus der Silikoseliteratur werden herangezogen. Abschließend wird auf die mögliche stimulierende Rolle von ionisierenden Strahlen (Uranbergbau) für die Begünstigung der Sklerodermieentstehung verwiesen.
Vortrag am 8.10.1993
Eberhard Brüning (Leipzig), Ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse:
„Das Konsulat der Vereinigten Staaten von Amerika zu Leipzig. Unter besonderer Berücksichtigung des Konsuls Dr. J. G. Flügel (1839–1855)“
Der Beitrag beschäftigt sich mit der wissenschaftlichen Erkundung der traditionsreichen Wechselbeziehungen zwischen Sachsen und den Vereinigten Staaten von Amerika. Innerhalb dieses Bezugsrahmens erhält die Stadt Leipzig einen geradezu singulären Stellenwert; denn wie kaum eine andere Stadt Deutschlands hatte sich diese Handels- und Messemetropole bereits seit der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung als eine veritable Stätte deutsch-amerikanischer Beziehungen profiliert. Sie galt als „eine Handelsstadt von einer Größenordnung, die sie zum wichtigsten Umschlagplatz in Europa macht“, wie der weitgereiste Bostoner Gelehrte und Freund König Johanns von Sachsen George Ticknor 1816 konstatierte. Insbesondere auf Drängen der Leipziger Kaufmannschaft wurde hier 1826 das erste Konsulat der USA in Sachsen eröffnet, das bis 1941 einen wesentlichen Beitrag zum Ausbau der sächsisch-amerikanischen Handels- und Kulturbeziehungen leistete (die Neueröffnung eines Generalkonsulats erfolgte 1991 nach einer fünf Dezennien währenden politisch bedingten Zwangspause). Im Vortrag wird die Geschichte dieses Konsulats vorgestellt. Hauptaugenmerk gilt dabei den ersten drei Konsuln: Christian Friedrich Göhring, Friedrich List und Johann Gottfried Flügel. Letzterem, der dem Konsulat 16 Jahre lang bis zu seinem Tode im Jahre 1855 vorstand und sich auch als Englischlektor der Leipziger Universität sowie als international angesehener Lexikograph ausgewiesen hatte, ist eine gesonderte ausführliche Betrachtung gewidmet.
Vortrag am 16.6.1993
Heiner Kaden (Meinsberg), Ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse:
„Elektrochemische Sensoren – Forschung und interdisziplinäre Anwendungen“
Die Entwicklung elektrochemischer Sensoren hat ihren Ursprung in der Voraussage elektrischer Potentialdifferenzen an der Phasengrenze unterschiedlicher Elektrolyte (W. Nernst 1892) und in dem experimentellen Befund, daß die elektrische Potentialdifferenz an der Grenzfläche Glas/wäßrige Phase vom pH-Wert der Lösung abhängt (E. Cremer 1906). Seitdem sind elektrochemische Sensoren zu unentbehrlichen Instrumenten der chemischen, medizinischen und biologischen Forschung geworden. Dies trifft in besonderem Maß für die Glasmembranelektrode zur Messung des pH-Wertes zu; ihre wissenschaftliche Erforschung und technische Entwicklung wurde etwa seit 1935 durch K. Schwabe, den früheren Präsidenten unserer Akademie, wesentlich geprägt und gefördert. Im Zusammenhang mit der Aufgabe, die Konzentration chemischer Species in Gasen oder Flüssigkeiten zu bestimmen, ist der Begriff Sensor heute gebräuchlicher als früher verwendete Bezeichnungen wie Elektrode oder Meßfühler. Die Forschung auf dem Gebiet elektrochemischer Sensoren ist durch das Zusammenwirken von analytischer und Elektrochemie gekennzeichnet; darüber hinaus spielen Werkstoffwissenschaften, Elektronik, Mikrosystemtechnik und (im Hinblick auf Biosensoren) die Biochemie eine wesentliche Rolle. Aktuelle Forschungsziele richten sich auf die Erweiterung des Spektrums der meßbaren Species, die Verbesserung von Selektivität und Sensitivität, die Erhöhung von Ansprechgeschwindigkeit und Lebensdauer, die Anpassung an extreme Bedingungen (hohe Temperaturen und Drücke) sowie die Miniaturisierung. Weiterhin werden moderne Herstellungstechniken, die aus der Halbleiter-, Dünn- bzw. Dickschichttechnik stammen, angewandt. Das Sensorsignal wird durch chemische Wechselwirkung des Analyten mit der sensitiven Oberfläche des sogenannten Sensorelements erzeugt; in elektrochemischen Biosensoren geschieht dies besonders selektiv durch Mitwirkung von Enzymen oder Antikörpern. Im Vortrag wurden Wirkungsweise und Einsatz elektrochemischer Sensoren an Hand einer Reihe von Beispielen erläutert.
Der gegenwärtig in den größten Stückzahlen hergestellte elektrochemische Sensor ist die sogenannte Lambdasonde, deren Funktion wesentlich auf der Permeation von Sauerstoff durch eine keramische Platte aus Zirkoniumdioxid bei hohen Temperaturen beruht. Mit dieser Sonde werden das Kraftstoff-Luft-Verhältnis und die Abgaszusammensetzung von Ottomotoren des Automobils gesteuert. Sensoren zur Messung von Kohlendioxid werden in der Arbeitssicherheit zur Warnung vor hohen Kohlendioxidkonzentrationen eingesetzt. Ihr Wirkungsmechanismus ist durch die Diffusion von CO2 durch eine gaspermeable Membran gekennzeichnet, die den Analyt (hier die umgebende Atmosphäre) von der Indikatorelektrode, einer pH-Glasmembranelektrode, abtrennt. Hierfür besteht eine überraschende Analogie zur chemischen Kontrolle der Atmung. Unter normalen Kreislauf- und Atembedingungen sind die peripheren Chemorezeptoren für CO2 im Gefäßsystem der Halsschlagader und Aorta praktisch ohne Einfluß. Bei Sauerstoffmangel und Kohlendioxidanreicherung beeinflussen sie jedoch über H+-sensible Areale am Hirmstamm die Atemfunktion. Der Reaktionsablauf nach der Gleichung CO2 + H2O ⇔ H+ + HCO3– ist für den chemischen Sensor und den biologischen Vorgang identisch. CO2-Sensoren sind auch für die Meeresforschung wichtig, da mit ihnen Informationen über die CO2-Aufnahme des Meerwassers im Zusammenhang mit der Klimabeeinflussung durch ansteigende CO2- Konzentrationen in der Atmosphäre gewonnen werden können. In der Tiefsee setzt man pH- und Sauerstoffsensoren zur Erkundung bestimmter Phänomene der Strömung und Vermischung verschiedener Wasserreservoire ein. Für zahlreiche Ionen, u.a. Alkalimetall- und Erdalkalimetallionen, einige Schwermetallionen sowie verschiedene Anionen, sind heute sogenannte ionenselektive Elektroden verfügbar. Sie werden vor allem in der Laboranalytik sowie für die Umweltkontrolle benutzt. In miniaturisierter Form (Durchmesser der Sensorspitze ca. 5 µm) kommen sie für interessante elektrophysiologische Untersuchungen, beispielsweise der Funktion des Auges, wie im Vortrag an einer Arbeit von R. Hanitzsch erläutert wurde, zur Anwendung. Ionensensitive Feldeffekttransistoren (ISFET, abgekürzt aus den Anfangsbuchstaben des vorstehenden Begriffs) sind Halbleitersensoren, die bisher vorzugsweise zur pH-Messung verwendet werden. Einige ihrer aktuellen Anwendungen in der Ophthalmologie, Dermatologie und Gynäkologie wurden vorgestellt. In der Diabetesforschung wird dem Einsatz sehr kleiner, mindestens mehrere Tage funktionstüchtiger implantierbarer Glucosesensoren große Aufmerksamkeit zuteil. Die besten Aussichten haben hier Biosensoren, die im sensitiven Teil des Meßfühlers mit dem Enzym Glucoseoxidase beschichtet sind. Während über die am Sensor ablaufenden chemischen und elektrochemischen Vorgänge weitgehende Klarheit besteht, stellen die Biokompatibilität der verwendeten Werkstoffe und die Kleinheit des Sensoraufbaus (erwünschte Abmessungen: max. 5 mm Länge, Durchmesser < 1 mm) besondere, schwierig erfüllbare Anforderungen dar. Kontinuierlich gemessene Werte der Glucosekonzentration, bisher nur mit elektrochemischen Sensoren erhältlich, sind eine wesentliche Voraussetzung zur Verbesserung der Diabetestherapie.
Vortrag am 11.6.1993
Anita Steube (Leipzig), Ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse:
„Sprache – Denken – Welt“
Der Beitrag geht von der Grammatik als einer Prinzipien- und Parameter-Theorie aus. Die Grammatik stellt eins der Inputsysteme für das konzeptuelle System des Menschen dar. Das konzeptuelle System verarbeitet grammatische Repräsentationen mit Repräsentationen aus den anderen Inputsystemen unter Zuhilfenahme von Weltwissen und Schlußoperationen zu konzeptuellen Repräsentationen (Interpretationen).
Die grammatischen Repräsentationen sind sowohl in der Syntax wie in der Semantischen Form mit vielen Variablen versehen, die durch konzeptuell verarbeitete Kontextinformation spezifiziert werden. Die Grammatikkenntnis steuert aber sowohl die Auswahl des Kontextes als auch das kontextabhängige Zustandekommen der Interpretationen. Durch die modulare Interaktion zwischen Grammatiksystem und konzeptuellem System brauchen in Texten auch nicht alle Informationen versprachlicht zu sein. Wenn Sprache als Handlungsinstrument benutzt wird, ist der Kontext wesentlich breiter als in der Grammatik. Im Textzusammenhang wird die Interpretation nicht mehr von der Grammatik gesteuert. Deshalb können unter neuen Kontextvoraussetzungen Texte immer neue Interpretationen erfahren, und Kommunikation kann bei gleicher Grammatikkenntnis grundsätzlich mißlingen. Zwischen dem Grammatikmodul und der jeweils konzeptuell zu errichtenden Textwelt vermitteln konzeptuelle Prinzipien.
Vortrag am 14.5.1993
Lothar von Wolfersdorf (Freiberg), Ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse:
„Inverse und schlecht gestellte Probleme“
In diesem Überblick über die Theorie der inversen und schlecht gestellten Probleme werden zunächst einige kurze historische Angaben zur Entwicklung der inversen Probleme bis etwa zum Jahre 1960 gemacht, dann ausführlich die Definition der korrekt gestellten Probleme erläutert. Als Beispiele für schlecht gestellte Probleme dienen das Problem der numerischen Differentiation und Integralgleichungen erster Art. Für ein mathematisches Modell mit eindeutig definierten Eingangs- und Ausgangsgrößen und Systemparametern werden neben dem direkten Problem das Rekonstruktionsproblem und das Identifikationsproblem als inverse Probleme erster und zweiter Art eingeführt und am Beispiel der Rekonstruktion eines Signals und der Identifizierung einer Black Box veranschaulicht. Aufgeführt werden weiterhin inverse Probleme aus der Mechanik, Seismik und der Tomographie, die auf Integralgleichungen vom Abelschen Typ führen. Ausführlich werden anschließend inverse Probleme bei partiellen Differentialgleichungen behandelt, wie Probleme der Bestimmung von Quelltermen und Koeffizienten, der Rekonstruktion von Randwerten und inverse Probleme der Spektral- und Streutheorie. Allgemeine Bemerkungen zur Lösung inverser Aufgaben folgen. Für das inverse Problem der Gravimetrie wird die Frage der eindeutigen Lösbarkeit betrachtet. Es werden die grundlegenden mathematischen Methoden zur Behandlung schlecht gestellter Probleme aufgeführt, außerdem zwei inverse Aufgaben zur Bestimmung des Memory-Kerns in der Boltzmannschen Spannungs- Dehnungs-Beziehung behandelt.
Vortrag am 14.5.1993
Ernst Schubert (Halle/Saale), Ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse:
„Die Erforschung der Bildwerke des Naumburger Meisters“
Im Anschluß an den Akademievortrag von Johannes Jahn (1963) mit dem Titel „Die Erschließung der Bildwerke des Naumburger Meisters“ wird die weitere Erforschung unter dem Gesichtspunkt der Wissenschaftsentwicklung der Kunstgeschichte seit 1945 detailliert dargelegt. Die zahlreichen Publikationen der führenden deutschen Wissenschaftler zum Thema werden kritisch gewürdigt und im Zusammenhang mit der Wissenschaftsgeschichte seit dem zweiten Weltkrieg gesehen. Es ergeben sich dabei wissenschaftsgeschichtliche Einschnitte, insbesondere zwischen 1945 und 1955 sowie dann bis Ende der 70er Jahre und danach bis in die 90er, die repräsentativ für die Entwicklung der Kunstgeschichtsforschung in der Bundesrepublik Deutschland zu sein scheinen. Schließlich wird das Ergebnis der bisherigen Forschung zusammengefaßt und festgestellt, daß auch in der Kunstgeschichte die jeweils im Vordergrund der Forschung stehenden speziellen Themen bewußt oder unbewußt – zeitgebunden sind.
Vortrag am 16.4.1993, Öffentliche Gesamtsitzung
Kurt Aland (Münster), Korrespondierendes Mitglied der Philologisch-historischen Klasse:
„Konstantin von Tischendorf (1815–1874). Neutestamentliche Textforschung damals und heute“
Der Leipziger Professor Konstantin von Tischendorf (1815–1874) ist im 19. Jahrhundert der berühmteste Mann der Universität gewesen, und zwar weit über Europa hinaus. Mit ihm begann eine neue Epoche der neutestamentlichen Textforschung, noch heute benutzt jeder, der hier arbeiten will, seine Ausgabe des griechischen Neuen Testaments von 1869/72. Unmittelbar nach seiner Habilitation brach er 1840 zu seiner ersten Handschriftenreise auf; daß er dabei in Paris eine Handschrift des 5. Jahrhunderts, deren zuverlässige Entzifferung die Wissenschaft aufgegeben hatte, vollständig veröffentlichte, machte ihn bekannt. Daß er im Katharinenkloster am Sinai den Codex Sinaiticus aus dem 4. Jahrhundert entdeckt – 100 Jahre älter als alle damals bekannten und zum ersten Mal mit dem vollständigen Text des Neuen Testaments –, stellte ihn in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Die Umstände der Entdeckung wie der Verbringung nach St. Petersburg und die Veröffentlichung in einem vorbildlichen Faksimiledruck (in Leipzig) machten Sensation und sind in ihren Umständen bis heute heftig umstritten. Die dabei gegen Tischendorf erhobenen Vorwürfe können jetzt aufgrund bisher unveröffentlichten Briefmaterials endgültig entkräftet werden.
Seit Tischendorf hat sich das der Forschung zur Verfügung stehende Material vervielfacht (von den rund 5400 griechischen Handschriften sind über 90% in Münster gesammelt), statt bis ins 4. Jahrhundert reicht es jetzt durch die in unserer Generation bekannt gewordenen Papyri auf breiter Front bis zum Jahr 200 und darüber hinaus. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen wie der Weg der neutestamentlichen Textforschung seit Tischendorf werden zusammengefaßt und dargestellt.
Vortrag am 12.3.1993
Hans Joachim Fiedler (Dresden), Ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse:
„Die Entwicklung der standortskundlichen Forschung in Tharandt seit der Gründung der Königlich-Sächsischen Forstakademie im Jahre 1816“
Die forstliche boden- und standortskundliche Forschung in Tharandt konzentrierte sich regional auf den Mittelgebirgsbereich und sein Vorland. Die Entwicklung der Forschungsschwerpunkte wurde teils von Tharandt mitbestimmt, wie in der Bodengeologie, Standortskartierung und Forstdüngung, teils folgte sie dem Zeittrend, wie im Falle der agrikulturchemischen und ökosystemaren Richtungen. Besonders hervorgehoben seien die Professoren K. L. Krutzsch, Stöckhardt sowie Vater und Krauß, die den Beginn der Forstbodenkunde, die agrikulturchemische sowie die forstlich-standortskundliche Richtung verkörpern. Die jüngste Entwicklung ist durch Ökosystem- und Immissionsforschung gekennzeichnet, der die Boden- und Waldernährungsforschung zugeordnet werden können. Die Wälder Sachsens sind heute flächendeckend standortskundlich kartiert, wichtige Standortsformen wurden auf ihre Boden-Pflanze-Beziehungen eingehend untersucht. Dabei stand im Mittelpunkt als wichtigste Wirtschaftsholzart die Fichte, für die zunächst Möglichkeiten der Ertragssteigerung durch Düngung und Melioration aufgezeigt wurden, später Möglichkeiten der Stabilisierung gegenüber SO2 und sauren Niederschlägen. Gegenwärtig wird die Umwandlung der Erzgebirgswälder von Fichtenmonokulturen zu Mischwäldern unter Betonung standortsgerechter Baumarten wissenschaftlich begleitet.
Vortrag am 12.3.1993
Heinrich Magirius (Dresden), Ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse:
„Zu Typologie und Stil der Dresdner Frauenkirche, des Meisterwerkes George Bährs“
Die Singularität des monumentalen steinernen Kuppelbaus, der sich über einem „gerichteten“ Zentralraum einer lutherischen Gemeindekirche erhebt, hat die Kunstgeschichte bisher davon abgehalten, der typologischen Genese der Bährschen Bauidee nachzugehen, zumal der glockenförmige Umriß der Kuppel keinen Zusammenhang mit den Tambourkuppel-Kirchen in Italien und Frankreich aufweist. Die kreuzförmige Grundrißform im Bährschen Kirchenbau folgt insbesondere deutschen und skandinavischen Traditionen des lutherischen Kirchenbaus im 17. Jahrhundert. Der von Emporen umgebene Binnenraum ist im ersten Plan von 1722 wie bei früheren Kirchen Bährs achteckig, erst nach Knöffels Gegenentwurf von 1725 kreisrund. Auch diese Divergenz der Grundrißform von Binnenraum und Außenbau ist im lutherischen Kirchenbau des 17. Jahrhunderts vorgeprägt (Dreifaltigkeitskirche in Carlsfeld), desgleichen Bährs Kuppelform als „welsche Haube“. Der evangelische Kirchenbau hat die turmartige äußere Erscheinung aus dem Lusthausbau des 16. und 17. Jahrhunderts übernommen. Der Kirchenraum ist durch eine Innenkuppel überwölbt, die durch eine Ringöffnung mit dem oberen Kuppelraum in Verbindung steht. Dieser Raum diente zur Aufstellung von Chören, zur Darbietung von „seraphischem Gesang“. Hierin folgte Bähr Gewohnheiten der Musizierpraxis in Schloßkapellen (Weimar, Wolfenbüttel) und Lusthäusern (Dresden). Traditionsverhaftet zeigt sich Bähr auch mit der Ausbildung eines langgestreckten Chores. In einer Achse sollten Kanzel – zunächst eine freistehende Kathederkanzel – Taufe, Altar und Orgel aufeinander folgen. Die Emporenbrüstungen und Betstübchen modellieren die auf den Chorraum ausgerichtete Zentralanlage.
Bährs ehrgeiziges Ziel, eine steinerne Kuppel zu errichten – er trat erst während des Baues 1729 damit an die Öffentlichkeit –, ist gewiß von italienischen Vorbildern angeregt. So verrät der serpentinenartige Aufstieg zwischen den bei den äußeren Kuppelschalen das Studium von Brunellescis Domkuppel in Florenz. Durch schriftliche Quellen ist Bährs Absicht überliefert, den Bau außen denkmalhaft „wie einen einzigen Stein“ wirken zu lassen. Die Laterne über der Kuppel sollte von einem Obelisken gekrönt werden. Dieses Baumotiv ist vielleicht vom Plan des gleichzeitig begonnenen Wachgebäudes in der Dresdner Neustadt angeregt. Es sollte zu Ehren Augusts des Starken mit einem Obelisken abgeschlossen werden. Die äußere Gestalt der Frauenkirche verleiht dagegen der ewigen Beständigkeit des Wortes Gottes Ausdruck, denn der Bauherr war das orthodox lutherische Bürgertum, das sich durch den katholischen Hof konfessionell herausgefordert fühlte.
Das Konstruktionsprinzip Bährs, eine steinerne Kuppel zu ermöglichen, ist das einer „pyramidalen Lastabtragung“ der Steinkuppel. Danach sollten die Lasten über sich gabelnde Wandpfeiler auf die vier übereckgestellten Treppenhäuser und die Außenmauern abgeleitet werden. Damit folgte Bähr einer bis in die Spätgotik zurückzuverfolgenden Bauweise, die er in genialer Weise seinem Zentralbau inkorporierte.
Der Stil des Baues bleibt im Unterbau ungewöhnlich karg. Zur Wirkung der Kuppel, die Monumentalität mit Musikalität des Umrisses vereint, tragen nicht zuletzt die vier Trabantentürme an den vier Ecken bei. Sie verschleiern optisch die Differenz zwischen quadratischem Unterbau und der im Grundriß kreisrunden Kuppel. Die Innenarchitektur ist durch eine Steigerung des Formenapparates und der Farbigkeit sowohl nach Altar und Orgel hin als auch in die Kuppel hinauf gekennzeichnet.
Vortrag am 12.2.1993
Wolfgang Dürwald (Leipzig), Ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse:
„Neue Untersuchungsmöglichkeiten in der gerichtsmedizinischen Spurenkunde“
Jede Handlung führt sowohl zu vorübergehenden als auch zu bleibenden Veränderungen. In der gerichtlichen Medizin und Kriminalistik werden solche Veränderungen als Spuren bezeichnet. Sie sind die Quelle für Informationen über den Verursacher, die Ursache, die Art und Weise sowie den Ort und Zeitpunkt ihrer Entstehung. Dabei ist die Ausschöpfung ihres Informationsgehaltes abhängig vom Zeitpunkt und der Art ihrer Sicherung, dem Können und Wissen des Untersuchers, den wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten zu ihrer Erschließung und weiteren Bearbeitung und der Qualität des Vergleichsmaterials. In der gerichtlichen Medizin konzentrierte sich die Forschung in erster Linie neben der Entdeckung neuer Eigenschaften vor allem auf die Entwicklung spezieller Untersuchungsmethoden und die Erarbeitung von Mikromethoden.
Mit der Entdeckung der menschlichen Blutgruppen wurde zunächst eine Gruppenzuordnung, später eine Individualidentifizierung möglich. Mit neuen Nachweismethoden konnten neue Merkmalsträger wie Flüssigkeiten ohne Zellgehalt, aber auch einzelne Zellen typisiert und neue Marker erfaßt werden.
Einen wesentlichen Fortschritt brachte die Einführung der Gel-Elektrophorese, ihre Weiterentwicklung zur Isoelektrofokussierung, der Proteintransfer (Blotting) und empfindliche Proteinnachweise durch Enzym-Substrat-Reaktionen bzw. -kopplung.
Kombiniert man serologische und elektrophoretische Marker, so ergibt sich ein Diskriminierungsindex, der schon in den Bereich der DNA-Typisierung kommt und nach Brinkmann bei 1 x 10–6 liegt.
Den letzten revolutionierenden Schritt brachte die DNA-Typisierung, der genetische Fingerabdruck. Nach Entschlüsselung der Doppel-Helix 1953 durch Watson und Crick begann die eigentliche Entwicklung der Gentechnik, als 1970 Smith ein Protein entdeckte, das DNA-Moleküle an bestimmten Stellen zerschneidet. Dieses Restriktionsenzym erkennt bestimmte Sequenzen und durchtrennt dann innerhalb dieser Sequenz beide Stränge. Mit einem Ligase genannten Protein lassen sich die Fragmente wieder verbinden, sogar Fragmente verschiedener Herkunft.
Die Gesamtheit der Erbanlagen eines Individuums bildet das Genom. Die gesamte DNA des Menschen besteht aus 3,7 x 109 Basenpaaren. Innerhalb der DNA existieren Abschnitte, die aus nicht bekannten Gründen aus fast identischen kurzen DNASequenzen bestehen. Sie werden als Mini-Satelliten bezeichnet. Dem Engländer Jeffreys ist es gelungen, diese Mini-Satelliten 1985 als sogenannte DNA-Fingerprints darzustellen. Wegen ihrer Individualität nannte er sie in Analogie zum Hautleistenfingerabdruck „DNA-Fingerprint“. Mit dem bekannten Fingerabdruck haben sie jedoch nur ihre Individualität gemeinsam.
Zwei verschiedene Grundtypen des Polymorphismus müssen unterschieden werden. Einmal sind es hochpolymorphe Systeme, dargestellt mit „multilocus probs“ (MLP), zum anderen geringer polymorphe Systeme, dargestellt mit „singlelocus probs“ (SLP).
Bis auf weiteres sollte die DNA-Analyse mit den klassischen serologischen Methoden kombiniert werden. Besondere Erfolge bringt die DNA-Analyse bei Spuren, die serologisch wenig informativ sind. Neuerdings bietet sich die Möglichkeit, sehr geringe Mengen DNA in Spuren durch die „polymerase chain reaction“ (PCR) zu vermehren.
Weitere faszinierende Möglichkeiten zur Identifizierung einer Spur bietet die forensische Odorologie, seit es möglich ist, Geruchskonserven herzustellen und diese fern vom Fundort durch hochspezialisierte Differenzierungshunde identifizieren zu lassen. Hier wurde eine Methode geschaffen, die es gestattet, zum einen den Geruch einer Person über längere Zeit zu konservieren und zum anderen eine Differenzierung zwischen verschiedenen Personengerüchen vorzunehmen, ohne daß ein Kontakt zwischen Person und Hund eintritt. Die Ergebnisse umfangreicher Reihenuntersuchungen berechtigen uns zu der Aussage, daß jeder Mensch für den Hund seinen eigenen individuellen Geruchskomplex besitzt. Wir konnten weiter feststellen, daß der für den Differenzierungshund signalbedeutende Komplex nicht nur über die gesamte Körperoberfläche, sondern auch von den inneren Organen und dem Blut emitiert wird. Versuche zur Stabilität des menschlichen Geruchskomplexes ergaben, daß bis zu 12 Tagen post mortem der Geruchskomplex an inneren Organen nachgewiesen werden konnte, obwohl der Fäulnisprozeß bereits erheblich fortgeschritten war. Auch Versuche mit nichtbeeinflußten Hautoberflächen von Brandleichen verliefen positiv. Durch diese Ergebnisse kann die komplizierte Arbeit bei der Identifizierung unbekannter Toter wesentlich unterstützt werden.
Vortrag am 12.2.1993
Carl Werner Müller (Saarbrücken), Korrespondierendes Mitglied der Philologisch-historischen Klasse:
„Medizin, Effizienz und Ökonomie im griechischen Denken der klassischen Zeit“
Der Zusammenhang von Medizin und Ökonomie ist uns eine vertraute Thematik und aus den endlosen Diskussionen der letzten Jahre über die Finanzierbarkeit des heutigen Gesundheitswesens allgemein gegenwärtig. Dabei erscheint die anhaltende Aktualität dieser Problematik als eine Konsequenz der Kostenexplosion der modernen Apparatemedizin und einer uneingeschränkten medizinischen Versorgung durch frei praktizierende Ärzte, aber sie muß – auf einem sehr viel bescheidenerem Niveau und unter den Bedingungen einer handwerklich-vorindustriellen Kultur doch auch etwas mit dem Charakter des ärztlichen Berufes als solchem zu tun haben. Diese Vermutung legt jedenfalls eine Reihe von Äußerungen oder Stellungnahmen zur Tätigkeit des Arztes in der griechischen Literatur der klassischen Zeit nahe, denen zufolge sich das Verhältnis von Leistung und finanzieller Entlohnung als ein in besonderer Weise mit dem medizinischen Berufsstand verbundenes Problem darstellt. Die Unsicherheit des Erfolgs, die Kosten der Therapie und die Frage der ärztlichen Versorgung als soziales Problem führen in der Antike – grundsätzlich – zu ähnlichen Aporien und zu ähnlichen Lösungsversuchen, wie auch wir sie kennen.
Vortrag am 8.1.1993
Hans Wußing (Leipzig), Ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse:
„Adam Ries (1492–1559), Sohn Abraham Ries (1533?–1604) und die Deutsche Coß“
Im Jahr 1992, das unter Mathematikhistorikern als Jahr des 500. Geburtstages von Adam Ries in vielfältiger Weise begangen wurde, ist dessen bisher Manuskript gebliebene „Coß“ von W. Kauzner (Regensburg) und H. Wußing (Leipzig) bei Teubner Stuttgart/Leipzig erstmals im Faksimile-Druck herausgegeben und kommentiert worden. Es zeigte sich, daß der als Rechenmeister legendären Ruhm besitzende Adam Ries auch ein bedeutender Vertreter der Deutschen Coß, der frühen Algebra, war.
Vier der fünf Söhne des Adam Ries haben einen mathematischen Beruf ausgeübt.
Abraham wurde Nachfolger des Vaters bei der Leitung der Rechenschule in Annaberg, wurde, wie der Vater, zum Sächsischen Hofarithmeticus ernannt und hinterließ eine größere Anzahl mathematischer Handschriften, die sich großenteils in der Sächsischen Landesbibliothek Dresden befinden. Auch Abraham Ries hat Schriften zur Coß hinterlassen, doch wird in der Literatur direkt oder indirekt unterstellt, es handle sich mehr oder weniger lediglich um Kopien der väterlichen „Coß“.
Dieser Frage bin ich nachgegangen und habe die bisher nicht analysierte Handschrift C. 411 (Dresden) zur Coß studiert und in Kooperation mit einem Diplomanden, Herrn T. Wittig, eine Transliteration des Textes vorgenommen.
Die Analyse des C.411 zeigt nun eindeutig, daß Abraham Ries eigenständiger Cossist war. In mindestens drei Problemgruppen ist er über die väterliche „Coß“ hinausgegangen, erstens bei der Bezeichnung der cossischen Symbole für die Potenzen der Unbekannten, zweitens bei der Typisierung der quadratischen Gleichungen, und drittens werden, anders als in der „Coß“ des Adam Ries, Sachaufgaben wirklich durchgerechnet, die auf quadratische Gleichungen führen.
Adam Ries und Abraham Ries sollten also weitaus deutlicher als bisher in der Gruppe der bedeutenden deutschsprachigen Vertreter der frühen Algebra herausgehoben werden, zugleich mit der differenzierenden Bewertung des Abraham Ries als eines selbständigen Algebraikers.
Vortrag am 8.1.1993
Dieter Scholz (Halle-Wittenberg), Ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse:
„Wirtschaftsräumliche Strukturveränderungen in den neuen Bundesländern, insbesondere in Sachsen und Thüringen seit 1990“
Die gegebenen sozialökonomischen Bedingungen in einem Wirtschaftsraum beeinflussen dessen wirtschafts- und sozialräumliche Struktur. Insbesondere kurzfristig eintretende, gravierende Veränderungen dieser Bedingungen führen zu nachhaltigen Veränderungen der Raumstrukturen. Andererseits darf nicht übersehen werden, daß den wirtschaftsräumlichen Strukturen immer auch ein beachtliches Beharrungsmoment innewohnt. Aus dieser Dialektik ergibt sich insgesamt ein komplizierter, oft längerfristig stattfindender Strukturwandel, der um so nachhaltiger wirkt, je grundlegender die sozialökonomischen Bedingungen sich ändern.
Eine solche Situation besteht zur Zeit in den neuen Bundesländern. Es erscheint daher reizvoll, den aktuellen Prozessen und ihren Auswirkungen auf die wirtschafts- und sozialräumlichen Strukturveränderungen nachzugehen, auch wenn diese Prozesse noch keineswegs abgeschlossen sind und das erforderliche Daten- und Informationsmaterial noch sehr lückenhaft ist.
Von besonders tiefgreifender Wirkung ist zunächst die derzeit stattfindende Deindustrialisierung. So nötig tendenziell der Abbau der oft wenig produktiven industriellen Arbeitsplätze auch ist (der Anteil der Industriebeschäftigten in der ehemaligen DDR an der Gesamtzahl der Beschäftigten betrug zuletzt [1988/89] 42,5 %, in der alten Bundesrepublik dagegen nur 34,1 % und in den USA gar nur 20,7 %); eine Reduzierung auf durchschnittlich ein Viertel bis ein Fünftel, regional zum Teil der völlige Zusammenbruch verwandeln ehemals hochindustrialisierte Räume zur Zeit in Notstandsgebiete mit Arbeitslosenquoten von 30–50 %. Betroffen sind davon vor allem die altindustrialisierten, monostrukturellen Ballungs- und Dichtegebiete Sachsens und Thüringens.
Ganz andere Folgen zeigt zur Zeit noch die Reprivatisierung in der Landwirtschaft. Die von vielen erwartete Renaissance der einzelbäuerlichen Familienbetriebe hat bisher kaum stattgefunden. Zwar lag z.B. der Anteil der Landwirtschaftsbetriebe mit einer Nutzfläche von weniger als 500 ha im Bundesland Thüringen im Mai 1991 schon bei reichlich 90 % aller Betriebe, ihr Anteil an der bewirtschafteten Fläche dagegen erreichte nicht einmal 10 %. Nach wie vor dominieren die Großbetriebe mit über 1000 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche, allerdings haben sie sich tendenziell etwas verkleinert und sind – besonders bei günstigen natürlichen Produktionsbedingungen – inzwischen auf dem europäischen Agrarmarkt durchaus konkurrenzfähig. Dabei ist typisch, daß sie ihren Beschäftigtenbestand in der Regel deutlich verkleinert haben, so daß die reinen Agrargebiete ebenfalls relativ hohe Arbeitslosenquoten aufweisen und weiterhin von der Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte gekennzeichnet sind.
Eine dritte deutliche Veränderung in den neuen Bundesländern ergibt sich aus der zum Teil explosionsartig stattfindenden Suburbanisierung, besonders im Bereich der großen Städte. Vor allem Einrichtungen der Dienstleistungssphäre, wie große Einkaufs- und Versorgungseinrichtungen (vor allem für Lebensmittel, Textilien und Bekleidung, Möbel- und Baumärkte) sind an diesem Prozeß beteiligt. Parallel dazu kommt es in den Zentren der Städte zu partieller Entleerung, indem traditionelle Funktionsträger im Zusammenhang mit den zum Teil extremen Pacht- und Mieterhöhungen für Gewerberäume inzwischen mehr und mehr aus ihren Standorten verdrängt werden. Dies betrifft vor allem traditionelle Bereiche des Einzelhandels und die Wohnfunktion.
Eine der aus diesen drei angedeuteten Strukturveränderungen resultierende Konsequenz ist die seit Sommer 1989 stattfindende Abwanderung der Bevölkerung aus den neuen Bundesländern. Auch wenn das verfügbare Datenmaterial eine deutliche Rückläufigkeit des Umfangs der Wanderungsverluste erkennen läßt, so bleibt doch bisher insgesamt eine eindeutig negative Bilanz. So betrug das Wanderungssaldo für Sachsen und Thüringen in den Jahren 1990 und 1991 insgesamt 250 000 Personen.
Hauptabwanderungsgebiete waren die alten sächsisch-thüringischen Industriegebiete und Großstädte, Hauptzielgebiete waren die alten Bundesländer Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und teilweise auch das Ausland. Da die genannten Hauptabwanderungsgebiete auch schon vor 1989 unter den Bedingungen der Binnenwanderung in der ehemaligen DDR im wesentlichen negative Wanderungsbilanzen aufwiesen und somit die hinsichtlich der Altersstruktur der verbleibenden Bevölkerung negativ-selektierende Wirkung der Abwanderung de facto schon seit Jahrzehnten wirksam ist, sind diese Abwanderungsgebiete inzwischen auch durch eine extrem überalterte Bevölkerung mit allen ihren negativen sozialen Folgen (hohe Anteile an Rentnern, Pflegebedürftigen u.ä.) gekennzeichnet.
Zusammenfassend ergeben sich damit gegenwärtig vor allem die folgenden, bislang durchaus auch widersprüchlichen Änderungen in den wirtschaftsräumlichen Strukturen:
- Reduzierung der Intensität der Raumnutzung, u.a. als Folge der rückläufigen Bevölkerungsentwicklung, der zunehmenden Sozialbrache in der Landwirtschaft und der zur Zeit noch zunehmenden Industriebrachen;
- Wachstum der versiegelten bzw. überbauten Flächen vor allem im suburbanen Raum als Folge der Investitionen im Handel, Verkehrswesen und teilweise auch in der Industrie;
- Funktionswandel, z.T. auch Funktionsentleerung in den altüberbauten Bereichen, vor allem den städtischen Zentren und den Altbaugebieten;
- Insgesamt aber fanden bisher noch keine gundlegenden Strukturveränderungen statt, die die über Jahrhunderte gewachsene Wirtschaftsraumstruktur in Frage stellen (z.B. noch keine extreme Zersiedelung der Landschaft). Vor allem darin liegt auch eine echte Chance für die künftige Entwicklung.