Vortrag am 9.12.2005
Jochen Stark (Weimar), Mitglied der Technikwissenschaftlichen Klasse:
Universitätsprofessor an der Bauhaus-Universität Weimar, Direktor des F.A.Finger-Institutes für Baustoffkunde; am 13. Februar 2004 zum Ordentlichen Mitglied der Technikwissenschaftlichen Klasse gewählt.
Hauptarbeitsgebiete: Baustoffe – Werkstoffe des Bauwesens.
Beton – neue Erkenntnisse über einen alten Baustoff
Beton ist ein Baustoff, der schon vor 2000 Jahren zum Bauen verwendet wurde. Heute ist er mit Abstand weltweit der Hauptbaustoff unseres Bauens. Seit rund 250 Jahren ist er auch Gegenstand umfangreicher und intensiver Forschungen. Im Mittelpunkt dieser Forschungen stand stets die Frage, wie wird dieses Gemisch aus verschiedenen Materialien in Verbindung mit Wasser zu einem festen und dauerhaft haltbarem Baustoff. Grundvoraussetzung dafür ist die Eigenschaft des Bindemittels, heute des Zementes, mit Wasser Verbindungen entstehen zu lassen, die so genannten Hydratphasen, die das Erstarren und Erhärten des Zementleims zum Zementstein bewirken. Diese Hydratphasen sind das Ergebnis der Hydratation. Die wesentlichen wasserhaltigen Verbindungen, die bei der Hydratation der Zemente entstehen und auf denen die Festigkeitsbildung beruht, sind die Calciumsilicathydrate (C-S-H-Phasen), die aus den silicatischen Klinkerphasen C3S und C2S bestehen, die bei der Reaktion mit Wasser gebildet werden. Über Entstehung und Gestalt dieser C-S-H-Phasen gab es unterschiedliche Theorien und Vorstellungen, da die bisher zur Verfügung stehenden Untersuchungstechniken nicht ausreichten, um die sich im Nanobereich abspielenden Vorgänge beobachten zu können. Erst der seit Mitte der 90er Jahre auch für die Baustoffforschung mögliche Einsatz hochauflösender Elektronenmikroskopie in Verbindung mit der ESEM-Technik machte dies möglich. Mit diesen Mikroskopen können Phasen abgebildet werden, deren Nachweis mit anderen Methoden nicht oder nur eingeschränkt möglich ist. So konnten durch die Verwendung des unter nahezu atmosphärischen Bedingungen arbeitenden ESEM-FEG ( Environmental Scanning Electron Microscop with Field Emission Gun) im Anfangsstadium der Hydratation die Entwicklung der Hydratphasen verfolgt und unter anderem die temporäre Bildung von Syngenit (K2SO4-CaSO4) nachgewiesen werden. Es wurde festgestellt, dass sich die Hydratphasen in Form spitznadeliger Fasern ausbilden, deren Spitzen sich ineinander verzahnen und durch eine Art “Reißverschlussprinzip” die Festigkeitsbildung des Betons bewirken. Die Hydratation lässt sich in verschiedene Abschnitte einteilen, in denen unterschiedliche chemische Reaktionen stattfinden. Eine Vielzahl von Prozessen kann insbesondere die Frühphase der Hydratation beeinflussen. Ziel unserer Forschungen ist es unter anderem, diese Einflüsse berechenbar zu machen, um die heute gestellten hohen Anforderungen an den Baustoff Beton mit seinen neuen Einsatzgebieten wie Selbstverdichtender Beton oder Ultrahochfester Beton erfüllen zu können.
C-S-H-Phasen – ESEM-Aufnahme
Schema der Portlandzement-Hydratation – abgeleitet aus ESEM-Aufnahmen
Vortrag am 9.12.2005
Egon Fanghänel (Halle), Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse:
Dr. rer. nat. habil., Professor i. R. für Organische Chemie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; am 9. Oktober 1981 zum Ordentlichen Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse gewählt;
Hauptarbeitsgebiete: Heterocyclenchemie, organische Schwefelchemie, organische Festkörper mit elektrischer Leitfähigkeit, materialwissenschaftliche Aspekte von Informationsaufzeichnungstechnologien.
Aceton – Ausgangspunkt für Heterocyclensynthesen; Chemie der 3,5-Dimethyl-1,1-dioxo-1,2-thiazin-carbonylverbindungen
Die N-Aryl-1,1-dioxo-1,2-thiazine, so genannte „Butadiensultame”, wurden erstmalig von Burckhardt Helferich – von 1930 bis 1945 Ordinarius für Chemie der Universität Leipzig, Ordentliches Mitglied der SAW sowie Sekretar der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse – beschrieben (1961). Aus den einfachen Ausgangsstoffen Aceton, Schwefelsäure, Essigsäureanhydrid und aromatische Amine sind die 3,5-Dimethylderivate dieser Verbindungsklasse leicht zugänglich. Nach dem Erkennen ihrer Grundreaktivität boten sich durch Einführung der Carbonylfunktion in den 1,1-Dioxo-1,2-thiazinring diese Verbindungen für vielfältige Heterocyclensynthesen durch Ringtransformations- und Ringschlussreaktionen an.
Aus den 1,1-Dioxo-1,2-thiazin-6-carbolyverbindungen (maskierte ungesättigte 1,5-Dicarbonylverbindungen) werden mit geeigneten Stickstoffbasen – auch unter Verwendung biogener Amine – Pyridinderivate mit neuartigem Substitutionsmuster durch Ringtransformationsreaktionen zugänglich. Die auf diesem Wege erhaltenen Pyridiniumsulfonanilide gehen mit elektronenarmen ungesättigten Edukten wie z.B. Acetylenmono- und -dicarbonsäureester unter milden Reaktionsbedingungen (Raumtemperatur) in mehrstufigen „Dominoreaktionen” unter Spaltung der sonst sehr stabilen Sulfonanilidbindung in neuartige Bicyclen bzw. modifizierte Pyridinderivate über.
Die 1,1-Dioxo-1,2-thiazin-4-carbonylverbindungen (maskierte 1,3-Dicarbonylverbindungen) lassen sich über Ringtransformationsreaktionen mit geeigneten Stickstoffbasen in 5-, 6- und 7-Ringheterocyclen (Pyrazole, Isoxazole, Pyrimidine, 1,4-Diazepine) überführen.
Betrachtet man die 3,5-Dimethyl-1,1-dioxo-1,2-thiazin-4 bzw. 6-carbonylverbindungen als cyclisch in 2,3-Stellung verbrückte ungesättigte Aldehyde mit hoher Reaktivität in 1,4-Stellung können mit Schwefel Thienothiazine, mit elektrophilen Alkinen Benzothiazine und mit geeigneten Alkenen Tetrahydrobenzothiazine durch Ringschlussreaktion gewonnen werden.
Mit den vorgestellten Reaktionen wird unterstrichen, dass die von Helferich beschriebenen „Butadiensultame” ein großes Potential für die Synthese von Heterocyclen mit potentiell biologischer Wirksamkeit und für weitere interessante Anwendungen aufweisen.
Vortrag am 11.11.2005
Morawetz (Leipzig), Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse:
Dr. phil., Professor für spezielle Botanik an der Universität Leipzig, Direktor des Botanischen Gartens an der Universität Leipzig; gewählt am 12. Februar 1999 als Ordentliches Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse.
Arbeitsgebiete: Pflanzensystematische Arbeiten mit modernen Methoden der Zytologie (Vergleichende Karyologie) der Pflanzengruppen der Annonaceae und Malraceae, Ökologisch-pflanzengeographische Untersuchungen zur Struktur und Funktion des Südamerikanischen Regenwaldes.
Pflanzen- und Tiervielfalt in Amazonien
Der amazonische Tieflandregenwald ist noch immer das größte geschlossene Regenwaldareal mit mehr als 3 Millionen km² Fläche. Gleichzeitig stellt es das Gebiet mit den meisten Tier- und Pflanzenarten dar und enthält ca. 30% aller Bedecktsamer. Trotz intensiver Forschung über mehr als zwei Jahrhunderte ist es noch nicht gelungen, mehr als zehn Prozent aller Organismen zu erfassen, geschweige denn ihre Biologie zu erforschen.
Parallel zu den laufenden Forschungsaktivitäten halten sich hartnäckig unbestätigte Gerüchte über die Verbreitung, Funktion und Zusammensetzung der enormen Artenvielfalt des Amazonaswaldes. So z.B. unterscheidet man bisher lediglich wenige Vegetationstypen, wie z.B. den nie überschwemmten Wald der Terra firme, Überschwemmungswälder im Weißwasser (Varzea) und im Schwarzwasser (Igapó). Dementsprechend hat man angenommen, daß die meisten Baumarten zwar auf eine dieser Vegetationstypen beschränkt sind, dort aber weiträumig vorkommen. Neueste Forschungen haben gezeigt, daß die Pflanzenarten im Amazonastiefland meist nur eine sehr kleine geographische Ausbreitung haben und somit der Amazonaswald aus einem Mosaik zehntausender Endemiten (nur lokal verbreitete Arten) besteht.
Eine weitere Schwierigkeit war bisher, daß die meisten Beobachtungen und Untersuchungen am Boden bzw. in der untersten Schicht des Regenwaldes stattgefunden haben. Durch ein neuartiges Beobachtungssystem, einen Beobachtungskran, wurde nunmehr gezeigt, daß ein Großteil der biologisch wichtigen Aktionen und Interaktionen im Kronendach stattfinden.
So z.B. konnte erstmalig nachgewiesen werden, daß die Verteilung und das Auftreten von Insekten auf Pflanzen nicht einem stochastischen, chaotischen oder nicht vorhersehbaren Prinzip folgen, sondern bei einer richtigen Versuchsanordnung durchaus vorhersehbar sind. Dies ist insofern von Bedeutung, als damit erstmals ein Schlüssel gefunden wurde, der es ermöglichen wird, die scheinbar chaotischen Vorgänge und unüberblickbaren Interaktionen zwischen verschiedenen Organismen zu erkennen, zu ordnen und einem nachvollziehbaren System zuzuordnen.
Mit diesen neuen Forschungsergebnissen hat sich ein wesentliches Tor zur Regenwaldforschung aufgetan, das vor allem bisherige Methoden und statistische Berechnungen revolutionieren wird.
Vortrag am 11.11.2005
Rudolf von Thadden (Göttingen), Mitglied der Philologisch-historischen Klasse:
Dr. phil., Dr. phil. h.c. (Genf, Frankfurt/Oder), em. Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen, gewählt am 16. April 1993 als Korrespondierendes Mitglied der Philologisch-historischen Klasse; Direktor des „Berlin-Brandenburgischen Instituts für Deutsch-Französische Zusammenarbeit in Europa" in Genshagen bei Berlin, Berater der Bundesregierung für die deutsch-französische Zusammenarbeit.
Das Ende einer Epoche? Die deutsch-französische Partnerschaft in einem veränderten Europa
Jeder spürt, dass sich in diesem Jahr in Frankreich etwas verändert hat. Aber ist deswegen auch eine Epoche in den deutsch-französischen Beziehungen zu Ende gegangen? Im Vortrag wird die Frage gestellt, worin in der veränderten Landschaft Europas die Bedeutung der deutsch-franzüsischen Partnerschaft liegt. Könnte sie vielleicht eine Identitätslücke füllen, die zwischen überholter Nationalstaatlichkeit einerseits und noch nicht vollendeten europäischen Strukturen anderseits entstanden ist? Dafür aber müssten die Handlungsfelder genauer definiert werden, die eine gemeinsame Politik der beiden Nachbarn am Rhein erlauben oder gar erfordern.
Vortrag am 14.10.2005
Jens Haustein (Jena), Mitglied der Philologisch-historischen Klasse:
Dr. phil., Professor für germanistische Mediävistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; am 13. Februar 2004 zum Ordentlichen Mitglied der Philologisch-historischen Klasse der Sächsischen Akademie der Wissenschaften gewählt; Mitglied der Vorhabenbezogenen Kommission für das Projekt „Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen”.
Arbeitsgebiete: Germanistische Mediävistik von den Anfängen der deutschen Literatur im 8. Jh. bis zum Ende der Reformationszeit, Rezeptionsgeschichte.
Überlegungen zum Verhältnis von Exempel und Exemplarität in mittelhochdeutscher Erzählliteratur
Ausgehend von drei Erzählungen des 13. und 14. Jahrhunderts („Moriz von Craûn”; Werner der Gärtner, „Helmbrecht”; Heinrich Kaufringer, „Rache des Ehemanns”), die im mittelalterlichen Gattungsgefüge an unterschiedlicher Stelle stehen, soll die These begründet werden, daß diese drei, die stellvertretend für zahlreiche andere analysiert werden, Beispiele erzählter Exemplarität darstellen. Sie sind „erzählt” in dem Sinne, daß der zu verhandelnde Fall eine darstellerische Ausgestaltung erfährt (worauf im Verlauf des Vortrags ausführlicher eingegangen wird), exemplarisch in dem Sinne, daß sie in einem bestimmten, für uns allerdings allenfalls annäherungsweise rekonstruierbaren, gesellschaftlichen Handeln einen Fall darstellen und das dargestellte Handeln kommentierend funktionalisieren. Sie sind erzählte Exempel, ohne selbstredend Exempel im strengen Sinne der Exempelforschung zu sein.
In einem zweiten Schritt wird die neuere Exempelforschung kurz skizziert und soll gezeigt werden, welcher Exempelbegriff in besonderer Weise fruchtbar zu machen ist für die Diskussion über erzählte Exemplarität. Eine Gefahr, der das Exempel stets ausgesetzt war, war ja die, sich im Erzählerischen zu verlieren und so seine Funktion zu unterlaufen.
Von hier aus soll eine nähere Analyse der drei zur Rede stehenden Erzählungen zeigen, wie in ihnen immer wieder erzählerische Digressionen zurückgedrängt oder marginalisiert werden zu Gunsten des in ihnen vorherrschenden Gedankens, daß die Ordnungsgefüge dieser Welt, die auf ganz unterschiedlichen Ebenen liegen, nicht ungestraft angetastet werden dürfen. Doch drei Exempel? Dies sind sie aus strukturellen, gattungsgeschichtlichen Gründen, die kurz aufgezeigt werden sollen, nicht. Gleichwohl stehen sie auf der Grenze zwischen adhortativer Funktion und ausufernder, vielsinniger Narratio. Die besondere Leistung der drei Autoren liegt darin, ihrer erzählerischen Lust Raum gegeben und sie doch auch sinnvoll eingeschränkt zu haben. Der Begrenztheit der Texte, die als eine historische zu verstehen ist, steht die Fähigkeit ihrer Autoren gegenüber, Verzicht auf die erzählerische Alternative geübt zu haben.
Vortrag am 14.10.2005
Ullrich Martin (Stuttgart), Mitglied der Technikwissenschaftlichen Klasse:
Dr.-Ing., Professur Schienenbahnen und Öffentlicher Verkehr und Direktor des Institutes für Eisenbahn- und Verkehrswesen an der Universität Stuttgart, Direktor des Verkehrswissenschaftlichen Institutes; am 13. Februar 2004 zum Korrespondierenden Mitglied der Technikwissenschaftlichen Klasse gewählt.
Arbeitsgebiete: verkehrsträgerübergreifende Verkehrssystemgestaltung mit den Schwerpunkten im spurgeführten und öffentlichen Verkehr unter Berücksichtigung verkehrspolitischer und verkehrswirtschaftlicher Fragestellungen sowie die Prozesssteuerung in Verkehrssystemen, verkehrsträgerübergreifende Gestaltung integraler Verkehrssysteme unter besonderer Beachtung der Schnittstellen zwischen den Verkehrsträgern.
Ziele des Verkehrs im Spannungsfeld von technischer und gesellschaftlicher Entwicklung
Ohne Verkehr wäre die menschliche Entwicklung undenkbar. An vielen gesellschaftlichen Errungenschaften hat der Verkehr einen entscheidenden Anteil. Zweifellos gibt es einen sehr starken Zusammenhang zwischen der Entwicklung von Verkehr und Gesellschaft. Dennoch hat der Verkehr zwischenzeitlich ein Ausmaß erreicht, bei dem die negativen Wirkungen gerade in dicht besiedelten Ländern wie Deutschland immer dominanter werden und mitunter sogar ein hemmender Einfluß auf die Volkswirtschaft entsteht. Verbunden mit dem Problem der immer deutlicher sichtbar werdenden Endlichkeit natürlicher Ressourcen verstärken sich auch die Forderungen nach einer konsequenten Eindämmung des Verkehrs. In diesem Kontext stellen sich die berechtigten Fragen nach einer drastischen Verkehrsreduzierung sowie nach sinnvollen Lösungen, diese praktisch umzusetzen. Aber auch die weitere Ausdehnung des Verkehrs verlangt neben einer Kenntnis der komplexen Wechselwirkungen zwischen Verkehrssystemgestaltung und gesamtgesellschaftlicher Entwicklung intelligente Lösungen zur Beschränkung der negativen Wirkungen des Verkehrs. Durch den Verkehr werden verschiedene Grundfunktionen übernommen, die sowohl der Lebensqualität des Individuums als auch der Entwicklung der Volkswirtschaft dienen. Diese Grundfunktionen haben sich in ihrem Wesen nicht verändert. Die Berücksichtigung dieser Grundfunktionen ist eine entscheidende Voraussetzung zur Ableitung objektiver Ziele für die Verkehrssystemgestaltung und darauf hin ausgerichtete verkehrswissenschaftliche Untersuchungen. Die Bedeutung der Transportwirtschaft wird im gesamtgesellschaftlichen Gefüge nur teilweise direkt erkennbar. Vielfältige Verflechtungen und mittelbare Wirkungen auch im Hinblick auf die individuelle Mobilität werden systematisch unterschätzt. Gerade in der modernen Volkswirtschaft mit ihrer weit fortgeschrittenen Arbeitsteilung, die längst die nationalstaatlichen Grenzen gesprengt hat, wird der Verkehr zum zentralen Element, das nicht selten über Erfolg oder Mißerfolg von politischen und wirtschaftlichen Zielstellungen entscheidet.
Der Verkehrssektor bietet ein hohes Innovationspotential, das gegenwärtig jedoch bei weitem nicht ausgenutzt wird. Werden die Innovationen des Verkehrsbereichs konsequent und planmäßig erschlossen, können sich daraus entscheidende Impulse für die gesamte Volkswirtschaft ergeben. Somit sind gerade die Ziele der Verkehrssystemgestaltung als Voraussetzung zum bewußten Handeln und zur Vermeidung von Fehlentscheidungen von zentraler Bedeutung nicht nur für die Zukunft des Verkehrssektors selbst.
Vortrag am 10.6.2005
Hans Wiesmeth (Leipzig), Mitglied der Technikwissenschaftlichen Klasse:
Dr. rer. pol., Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Allokationstheorie, seit 2. Mai 2005 Rektor der Handelshochschule Leipzig; am 13. Februar 2004 zum Ordentlichen Mitglied der Technikwissenschaftlichen Klasse gewählt.
Arbeitsgebiete: Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Allokationstheorie, Umweltökonomie.
Entscheidungsfindung im Ministerrat der EU. Eine formale Analyse des Abstimmungsmechanismus (gem. mit Shlomo Weber, Southern Methodist University, Dallas)
Einleitung:
Grundlage der Wirtschaftswissenschaften – vornehmlich der Volkswirtschaftslehre – sind die Allokationsprobleme, die aus der Knappheit der zur Verfügung stehenden Ressourcen resultieren. In unserem Wirtschaftssystem spielt der Marktmechanismus in Verbindung mit dem Effizienzkriterium eine wichtige Rolle bei der Lösung dieser grundlegenden Probleme. Allerdings hängt die Marktwirtschaft von gewissen Rahmenbedingungen ab, darüber hinaus können nicht alle wirtschaftlichen relevanten Fragestellungen über Märkte geregelt werden. Weitere Mechanismen wie parlamentarische Verfahren oder eben die Entscheidungsfindung im Ministerrat der EU spielen eine wichtige Rolle.
Nach dem derzeit gültigen Vertrag von Nizza sowie nach dem Entwurf der Verfassung der EU ist im Ministerrat eine qualifizierte Mehrheit für eine Gesetzesinitiative der Kommission der EU erforderlich, die sowohl die Staaten sowie die dadurch vertretene Bevölkerung umfasst. An dieser Stelle setzt mein Vortrag zur Entscheidungsfindung im Ministerrat der EU an: Allerdings sollen nicht die direkten ökonomischen Konsequenzen von Entscheidungen behandelt werden, sondern relevante Aspekte des Entscheidungsmechanismus: Was kann man aus ökonomischer Sicht sagen zu den Eigenschaften des Entscheidungsmechanismus, der in politischer Hinsicht verständlich ist?
Abstimmungsmacht und Shapley-Wert:
Genauer kann man die Frage nach der „Abstimmungsmacht” der einzelnen Staaten stellen, wobei ein seit langem bekanntes und praktikables Instrument zur Messung der Abstimmungsmacht der Shapley-Wert ist, der zunächst kurz eingeführt wird. Anschließend werden einige Überlegungen angestellt zu der Tatsache, dass nach dem Abstimmungsverfahren des Verfassungsentwurfs einige der Staaten generell „stark” sind, unabhängig vom Quorum der Bevölkerungsmehrheit. So gehört beispielsweise die Bundesrepublik Deutschland zu diesen „starken” Staaten. Darüber hinaus kann man die Frage stellen, ob auf der Grundlage des Vertrags von Nizza das Entscheidungsverfahren des Verfassungsentwurfs mehrheitsfähig gewesen wäre.
Zusätzlich ergibt sich in einem ökonomischen Kontext generell das Gleichgewichtsproblem. Darunter versteht man eine Konstellation, die erreichbar ist, die aber auch stabil ist in dem Sinne, dass es nach den geltenden Entscheidungsregeln keine Mehrheit der beteiligten Akteure gibt, von dieser Konstellation abzuweichen. Bezogen auf das Abstimmungsverfahren des Verfassungsentwurfs wäre dies also ein Quorum der Bevölkerungsmehrheit, das selbst nach den Regeln der qualifizierten Mehrheit nicht „überstimmt” werden kann.
Zusammenfassung:
Insgesamt soll der Vortrag die Vorgehensweise in der Volkswirtschaftslehre oder – genauer – in der Wirtschaftstheorie anhand eines Gebietes aufzeigen, das zum klassischen Bereich der Wirtschaftswissenschaften eher randständig ist. Aber vielleicht kann man gerade mit derartigen Betrachtungen die relevante Arbeitsweise der Volkswirtschaftslehre aufhellen: Beobachtungen erklären und daraus entsprechende Schlussfolgerungen ableiten.
Vortrag am 10.6.2005
Winfried Harzer (Dresden), Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse:
Dr. med., Professor für Kieferorthopädie, Direktor der Poliklinik für Kieferorthopädie am Universitätsklinikum der Technischen Universität Dresden; am 9. Januar 1998 zum Ordentlichen Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse gewählt.
Arbeitsgebiete: Molekularbiologische Untersuchungen zum Funktionsstatus der menschlichen Kaumuskulatur, Funktionskieferorthopädie, Implantate in der Kieferorthopädie.
Schnarchen, nicht nur ein Problem für den Partner – Zur Diagnostik und Therapie des obstruktiven Schlafapnoe-Syndroms (OSAS)
Bei der obstruktiven Schlafapnoe handelt es sich um Atemstillstände im Schlaf, die der Patient nicht merkt. Sie ist potentiell eine lebensbedrohliche Erkrankung. Eine erhöhte Mortalität bei unbehandeltem OSAS, weil erhöhte Inzidenz von: Herzrhythmusstörungen, arterieller Hypertonie, koronarer Herzkrankheit und Kardiomyopathie.
Definition:
Schlafapnoe: mehr als 10 Atempausen >10 sec pro Stunde
Apnoe: Sistieren des Luftstromes an Nase und Mund von mind. 10 sec Dauer
Hypopnoe: Reduktion des Luftstromes um mindestens 50 % gegenüber der Normalatmung.
Schnarchen: akustisches Phänomen, das infolge unvollständiger Verlegung der oberen Atemwege durch Vibrationen in den oropharyngealen Weichteilen entsteht.
Zusammenwirkung verschiedener Fachbereiche für Diagnostik und Therapiezielsetzung erforderlich, viele Fachbereiche berührt: Allgemeinmedizin, Innere Medizin, Kinderheilkunde, Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Kieferorthopädie, Prothetik, HNO, Neurologie/Psychiatrie. Die Prävalenz beträgt 1–3% der Bevölkerung, 1–3 Mio. Betroffene in Deutschland, Männer überwiegen deutlich (15–25: 1), Altersgipfel Männer: 40.–49. Lebensjahr, Frauen: 50.–60. Lebensjahr.
Diagnosegruppen:
- Schlafbezogene Atemstörungen ohne Obstruktion der Atemwege, primäre oder sekundäre alveoläre Hypoventilation, (chronisch obstruktive Lungenerkrankungen, Lungentuberkulose, Myopathien, Kyphoskoliose, Zwerchfelllähmung), zentrale Schlafapnoe (gesamte Atemtätigkeit aufgehoben),
- Schlafbezogene Atemstörungen mit Obstruktion der Atemwege, obstruktives Schnarchen (ohne Krankheitswert), obstruktive Schlafapnoe.
Symptome:
- Tagessymptomatik, ausgeprägte Tagesmüdigkeit, Abgeschlagenheit, erhöhte Einschlafneigung (hohes Unfallrisiko bei Kraftfahrern), verminderte psychische und physische Leistungsfähigkeit, morgendliche Kopfschmerzen, Persönlichkeitsstörungen, depressive Verstimmung.
- Nachtsymptomatik: lautes und unregelmäßiges Schnarchen, abnorme nächtliche motorische Aktivität, Schlafunterbrechung, Nykturie, vermehrtes nächtliches Schwitzen.
- Begleit- und Folgeerkrankungen: Adipositas, arterielle Hypertonie, pulmonale Hypertonie, Herzrhythmusstörungen, Kardiomyopathie. Pathophysiologie ist noch unklar, Kollaps und Verlegung der oberen Atemwege, Erhöhter Atemwiderstand, Schwingen von Gaumensegel und Pharynxwänden (Schnarchen).
Diagnostik:
Vorstellung HNO, Allergietest, Rhinomanometrie, Vergrößerung von Zunge, Tonsillen, weicher Gaumen, Uvula, Vorstellung Kieferchirurgie und Kieferorthopädie mit Röntgenbildanalyse, Weichteilvermessung, Schlaflabor kardiorespiratorische Polysomnographie: EEG, Elektrookulogramm, EMG an Kinn und Bein, EKG, Pulsoxymetrie, thorakale und abdominale Atembewegungen und Luftfluss in der Nase simultan aufgezeichnet, Respiratory disturbance Index: Anzahl der Apnoen und atemphysiologisch wirksamen Hypopnoen mit einer Dauer >10 sec RDI<5/h Normbereich, RDI>10/h pathologisch, RDI 10–19/h leichte Schlafapnoe, RDI 20–34/h mittelgradige Schlafapnoe, RDI>34/h, schwere Schlafapnoe.
Therapie:
Kausale Therapie nicht möglich, Therapieform richtet sich nach Symptomatik, individuelles Risiko, Schlaflaborbefund, subjektive Beschwerden, Leidensdruck – Begleitkrankheiten. Allgemeintherapie: Übergewicht reduzieren, Alkohol vor dem Schlafengehen meiden, keine Benzodiazepine oder zentral sedierende Arzneimittel verwenden, Schlafen mit erhöhtem Oberkörper, Theophyllin. Nasale Überdruckbeatmung: Kollaps der oropharyngealen Muskulatur im Schlaf durch „pneumatische Schienung” verhindert, Beatmungsmaske mit kontinuierlichem Überdruck, Raumluft über Schlauchsystem zur Nasenmaske geleitet, individuelle Anpassung des Druckniveaus für jeden Patienten. Intraorale Geräte durch Kieferorthopäden: Protrusionschienen, Unterkiefer wird in protrudierte Position gezwungen, Aktivierung der Pharynxmuskulatur und des M. genioglossus, dazu wird eigene Patientenbefragung zur Toleranz und zum Erfolg dargestellt. Chirurgische Therapie durch Kieferchirurgen und HNO-Arzt: Eingriffe auf verschiedenen anatomischen Ebenen: Nase, weicher Gaumen/Oberkiefer, Zungengrund/ Unterkiefer. Alle lokalen Maßnahmen dienen dem Ziel, den pharyngealen Atemraum zu vergrößern.
Vortrag am 13.5.2005
Hans-Jörg Mögel (Freiberg), Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse:
Dr. rer. nat. habil., Professor für Physikalische Chemie an der TU Bergakademie Freiberg; am 13. Februar 2004 zum Ordentlichen Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse gewählt.
Hauptarbeitsgebiete: Theoretische Physikalische Chemie, Monte-Carlo-Simulationen kolloidaler Strukturen, Rheologie und Struktur komplexer Fluide.
Monte Carlo Simulationen zur Selbstassoziation amphiphiler Moleküle
Die Besonderheiten des Phasenverhaltens amphiphiler Moleküle in wässrigen Lösungen und ihre Interpretation als Assoziationseffekte sind Gegenstand kolloidwissenschaftlicher Forschungen seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Das Assoziationsverhalten dieser Moleküle spielt für eine wachsende Anzahl technischer Anwendungen, wie z.B. Herabsetzung von Oberflächenspannungen, Benetzung, Reinigungsprozesse, Oberflächenstrukturierung, Herstellung von Nanopartikeln und nanostrukturierten Werkstoffen, chemische Katalyse, Solubilisierung unlöslicher Stoffe und Sensordesign, eine große Rolle. Eine besondere Bedeutung kommt Assoziatstrukturen, die aus Lipiden gebildet werden, für das Verständnis der Wirkung biologischer Strukturelemente wie Zellmembranen und Liposomen zu. Die Struktur amphiphiler Moleküle zeichnet sich durch eine Kombination hydrophiler und hydrophober Anteile aus. Obwohl die Wechselwirkung der hydrophoben Molekülteile mit einer wässrigen Umgebung energetisch vorteilhaft ist, führt die Umstrukturierung des Lösungsmittels zu entropischen Nachteilen. Der so resultierende hydrophobe Effekt bedingt die Abschirmung der hydrophoben Molekülteile gegen Wasser durch die Bildung von Assoziaten, wie Micellen, Bischichten, Vesikeln und anderen lyotropen flüssigkristallinen Phasen.
Im Vortrag werden Ergebnisse von Computersimulationen mit der Monte-Carlo-Technik zur Selbstassoziation der amphiphilen Moleküle in Wasser vorgestellt. Am Beispiel einfacher coarse-grained-Modelle wird der Einfluss von Temperatur, Konzentration und molekularer Struktur auf das Phasenverhalten behandelt. Bischichtstrukturen und die Entstehung und Fluktuationen von Vesikeln als Prozess der Selbstorganisation im Lösungsvolumen werden demonstriert. Adsorptionsgleichgewichte von Lösungen amphiphiler Moleküle an hydrophilen, hydrophoben und heterogenen Feststoffoberflächen werden diskutiert. Die Entstehung lipidvermittelter entropisch bedingter Wechselwirkungen zwischen integralen Membranproteinen wird im Gittermodell simuliert. Es wird gezeigt, wie durch die Kombination einfacher molekularer Strukturmerkmale wie bipolare Anordnung der hydrophilen Anteile, eingeschränkte Flexibilität des hydrophoben Anteils und Variation des Querschnittsverhältnisses von hydrophilem und hydrophobem Anteil Micellen mit chiraler Struktur entstehen können.
Vortrag am 13.5.2005
Sebastian Lentz (Leipzig), Mitglied der Philologisch-historischen Klasse:
Dr. phil., Professor für Regionale Geographie am Institut für Geographie (Fakultät für Geowissenschaften und Physik) der Universität Leipzig; zugleich Direktor des Leibniz-Instituts für Länderkunde (Leipzig); am 13. Februar 2004 zum Ordentlichen Mitglied der Philologisch-historischen Klasse gewählt.
Hauptarbeitsgebiete: Forschungsschwerpunkte: Sozialgeographie, Stadtgeographie, Regionale Geographie, GIS, Transformationsforschung, Nachfolgestaaten der Sowjetunion, Europa.
Aktuelle Trends der Stadtentwicklung in Osteuropa
Aus Sicht der geographischen Stadtforschung wurde die „osteuropäische” Stadt seit den 1960er Jahren in zwei großen Linien analysiert: einerseits als Unterkategorie des europäischen Stadttyps, vor allem auf Grund ihrer ähnlichen Geschichte und Physiognomie, andererseits als eigener Typ, nämlich der „sozialistischen” Stadt, die einer neuen Entwicklungslinie unterworfen war. Ihre Eigenart wurde hergeleitet aus der Ideologie zur sozialistischen Lebensweise, d.h. die Stadtentwicklung wurde als Element in einem totalitären System interpretiert, in dem individuelle Akteure nur geringe Gestaltungsspielräume hatten. Mit dem Zusammenbruch der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen im östlichen Europa ergaben sich durch die Transformation in der empirischen Praxis bis dahin kaum einmal gegebene Prüfkonstellationen für die bis dato gepflegten Forschungshypothesen zu Gestalt, Struktur und Funktion von Städten. Nach rund 15 Jahren Feldforschung wird deutlich, dass urbane Strukturen in der Stadtgeographie vor allem als Ergebnis („Bedingte”) gesellschaftlicher Organisation verstanden werden, während vergleichsweise wenige Ansätze die gebauten Umwelten als voraussetzende und ermöglichende Komponenten („Bedingende”) gesellschaftlicher Entwicklung konzipieren. Auf drei räumlichen Maßstabsebenen wird berichtet, welche Ergebnisse die Forschungen bislang erbracht haben, d.h., welche räumlichen Trends derzeit die Städte in Osteuropa prägen. Auf der Makroebene der nationalen Städtesysteme ist festzustellen, dass neue Funktionsordnungen im Rahmen der nationalen und internationalen Arbeitsteilung Auf- und Abwertungen von Städten mit sich bringen, nachdem die administrativen Zuweisungen im Rahmen der Zentralplanwirtschaften bzw. der wirtschaftlichen Verflechtungen im Rahmen des RGW keine Gültigkeit mehr besitzen. Phänomene sind beispielsweise der intensivere Anschluss der Hauptstädte an die Weltwirtschaft, in dessen Folge sie sich zu metropolitanen Knoten entwickeln, während viele Klein- und Mittelstädte von Deindustrialisierung betroffen sind, ohne dass sich zunächst alternative Erwerbszweige etablieren. Auf der Mesoebene wurde die osteuropäische Stadt unter der Totalitarismusperspektive durch die Frage nach der Verwirklichung sozialer Ungleichheiten erforscht und hinterfragt. Als Erscheinungen des Postsozialismus werden nunmehr vor allem wachsende soziale Ungleichverteilungen, eine neue innerstädtische Differenzierung im Wohnen, aber auch in anderen Funktionen thematisiert.
Schließlich wird auf der Mikroebene nach der generellen Verschränkung von Raum- und gesellschaftlichen Wertkategorien wie „öffentlich” und „privat” in der postsozialistischen Gesellschaft gefragt und danach, wie sich Raumperzeption und Raumnutzung unter Makrotrends wie Demokratisierung oder der Persistenz von kulturellen Wertmustern neu ausprägen und was die Analyse urbaner Räume zum großen Forschungsfeld der Gesellschaftsanalyse beitragen kann.
Vortrag am 11.3.2005
Bernhard Streck (Leipzig), Mitglied der Philologisch-historischen Klasse:
Dr. phil., seit 1994 Professor an der Universität Leipzig und Leiter des Instituts für Ethnologie der Universität Leipzig; am 13. Februar 2004 zum Ordentlichen Mitglied der Philologisch-historischen Klasse der Sächsischen Akademie der Wissenschaften gewählt.
Hauptarbeitsgebiete: Ethnographie Nordostafrikas, Fachgeschichte, Tsiganologie und Religionsethnologie.
Die gezeigte und die verborgene Kultur
Der Vortrag möchte den fortgesetzten Gebrauch der zugegebenermaßen recht dehnbaren Kategorie Kultur in der Ethnologie rechtfertigen. Dazu wird das, was Menschen sich gegenseitig beibringen, in die zwei Aspekte Schauseite und Heimlichkeit zerlegt. Voraussetzung für eine solche „binokulare” Kulturanalyse ist die Verabschiedung von der strukturfunktionalistischen Konzeption von Kultur als Uhrwerk, das schon der Verlust nur eines Zackens im Zahnkranz zum Stillstand bringen kann.
Kultur als kontingentes Ensemble autonomer Sinnstiftungen, die ungeachtet ihrer ökonomischen oder sozialen Kohärenz und faktischen Synousie ihr Eigenleben bewahren, wird unter den Zwischenüberschriften 1. Verschleierungen, 2. Vergegenwärtigungen, 3. Tabuisierungen und 4. Verwandlungen abgehandelt. Dem Ethnologen geht es im Angesicht einer fremden Kultur wie dem Jüngling zu Sais, der der Verführung durch Isis’ Schleier erliegt. Was eine Gesellschaft im Keller versteckt und was sie als Aussenfassade zeigt, was vor und hinter der Bühne kultureller Performanz abläuft, lässt sich schwer mit derselben Vernunft begreifen. Thema des Vortrags ist die „interkulturelle Kommunikation” – dies aber nicht im Sinne des politisch erwünschten Spannungsabbaus in heterogenen Kontexten, sondern als Markt der Verpackungen, Drapierungen, Maskeraden, missverstandenen Zeichen und misslungenen Übersetzungen. Kulturen sind wie die sie tragenden Menschen üußerst flexibel im Umziehen, kennen die Gebote der Höflichkeit, werben für sich selbst und verstecken ihr „wahres Ich” – vielleicht weil es nicht diskursiv ist.
Vortrag am 11.3.2005
Wolfram Dötzel (Chemnitz), Mitglied der Technikwissenschaftlichen Klasse:
Dr.-Ing., seit 1993 Inhaber der Professur für Mikrosystem- und Gerätetechnik an der Technischen Universität Chemnitz. Am 9. Februar 2001 zum Ordentlichen Mitglied der Technikwissenschaftlichen Klasse der Sächsischen Akademie der Wissenschaften gewählt.
Hauptarbeitsgebiete: Mikrosystemtechnik, Gerätetechnik, Technische Zuverlässigkeit.
Mikrosystemtechnik – Wachstum ins Kleine
Die Mikroelektronik hatte eine der schnellsten Entwicklungen in der Technikgeschichte. Sie ist im vergangenen Jahrhundert am stärksten in Erscheinung getreten und hat die Art verändert, zu arbeiten und zu erkennen. Die Entwicklung von nichtelektronischen Komponenten war hinter dem Miniaturisierungstempo der Mikroelektronik zurückgeblieben. Erst in den späten 70er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde damit begonnen, Werkstoffe und Fertigungsverfahren der Mikroelektronik auf die Konstruktion miniaturisierter, beweglicher mechanischer Strukturen für Sensoren und Aktoren zu übertragen. Mit der sich daraus entwickelnden Mikrosystemtechnik wurde der Hauptmangel der Mikroelektronik, nur elektrische Signale zu verarbeiten, aber mit der nichtelektrischen Umgebung selbst nicht kommunizieren zu können, überwunden.
Mikrosysteme können aus der Semantik der Worte „Mikro” und “System” erklärt werden. Beide drücken Ursprung und Motivation aus:
- Sie besitzen Strukturen im Mikrometerbereich, ihre technische Funktion wird wesentlich durch ihre Mikrogestalt bestimmt.
- Sie integrieren verschiedene Funktionen auf kleinstem Raum: elektrische, magnetische, mechanische, fluidische, optische, chemische …
Daraus resultieren enge Wechselwirkungen zwischen den beteiligten physikalischen Domänen. Das erschwert Entwurf, Simulation und Fertigung erheblich, aber andererseits ergeben sich aus dem Systemcharakter auch Vorteile bezüglich einer Optimierung der Gesamtfunktion. Ein zusätzlicher Aspekt ist die relativ einfache Möglichkeit, viele gleichartige Elemente in Arrayanordnungen zu kombinieren: Arrays ermöglichen sowohl bei Sensoren als auch bei Aktoren eine Erweiterung des Arbeitsbereiches, zeitparalleles Arbeiten, Nutzung von Redundanz.
In der Zwischenzeit sind Mikrosysteme in vielen Branchen etabliert und haben den Hauch des Phantastischen verloren. Produktbeispiele sind Schreib/Leseköpfe für Computer-Festplatten, Mikrospiegel zum Abtasten von Objekten, Mikrospiegel und Mikrospiegelarrays zur Laserprojektion, Aktorsysteme in Tintendruckern (bubble jet), Druck-, Durchfluss-, Beschleunigungs- oder Drehratesensoren im Automobil, Chip-Analysesysteme, optische Schalter.
Die größten Zuwachsraten für Mikrosysteme werden in den Anwendungsfeldern
- Peripherie der Informationstechnik
- Medizin und Biomedizin
- Telekommunikation
- Automotive (Fahrerassistenzsysteme)
- Umweltüberwachung erwartet.
Im Vortrag werden Entwurf und Applikation von mikromechanischen Komponenten thematisiert und exemplarische Beispiele dargestellt.
Vortrag am 11.2.2005
Dagmar Hülsenberg (Ilmenau), Mitglied der Technikwissenschaftlichen Klasse:
Dr.-Ing., Dr. rer. oec, Professorin für Glas- und Keramiktechnologie an der Technischen Universität Ilmenau; am 10. Oktober 1986 zum Ordentlichen Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Sächsischen Akademie der Wissenschaften gewählt; seit 10. Mai 1996 Mitglied der Technikwissenschaftlichen Klasse.
Hauptarbeitsgebiete: Mikrostrukturierung von Glas, transparente, schadenstolerante Glas/Glas-Verbundwerkstoffe, Rapid-quenching für oxidische Schmelzen, Nano- und mikrokristalline ferromagnetische und ferroelektrische Oxidpulver, Elektrotechnologische Verfahren der Glasherstellung, gezielt lösliche Gläser als Gießkerne, Spezialkeramiken.
Homogenisierung von Glasschmelzen unter Nutzung von Lorentzkräften
Am Beginn des Vortrags wird versucht, den Begriff „Homogenität einer Glasschmelze” zu erläutern. Das erfolgt im Hinblick auf die sich an die Schmelze anschließende Formgebung und die Erzeugniseigenschaften. Temperaturverteilungen, chemische Konzentrationsgradienten und Heterogenitäten spielen eine entscheidende Rolle. Die Parameter sind in Abhängigkeit vom angestrebten Erzeugnis unterschiedlich relevant.
Die zur Erzielung einer möglichst homogenen Glasschmelze grundsätzlich zur Verfügung stehenden Transportvorgänge werden kurz erläutert. Dabei stehen Konvektionsströme, die sich aus Temperaturgradienten in unterschiedlichen Schmelzanlagen ergeben, im Mittelpunkt. Industriell schon heute eingesetzte Hilfsmittel zur Verbesserung der Homogenität der Glasschmelze werden erläutert.
Eine neue, am FG Glas- und Keramiktechnologie der TU Ilmenau erprobte Methode zur Verbesserung der Homogenität von Glasschmelzen, die Anwendung von Lorentzkräften zum magnetischen Rühren von Schmelzen, stellt den Schwerpunkt des Vortrags dar.
Zunächst wird erklärt, wie Lorentzkräfte entstehen und dass sie in jedem Motor auftreten. Lorentzkräfte werden aber auch heute schon eingesetzt, um den Auslauf von Metallschmelzen aus Schmelzgefäßen stopfenlos zu verhindern. Dass in Glasschmelzen Lorentzkräfte auftreten können, erwartet zunächst kaum jemand. Tatsächlich tragen sie aber in direkt elektrisch beheizten Glasschmelzen ständig – bisher unbemerkt – zu zusätzlichen Strömungen bei. Diese Art von Lorentzkräften wird als „natürliche” Lorentzkräfte definiert.
Wir haben die Schmelzanlagen von außen magnetisch beaufschlagt und„ künstliche” Lorentzkräfte erzeugt. Zunächst werden die Versuchsanlage und das Messprogramm vorgestellt. Die Versuche erfolgen mit transparentem und mit schwarzem Glas, d. h. mit Materialien, deren Wärmetransport sich deutlich unterscheidet. Messungen der Temperaturverteilung in der Schmelze geben Aufschluss zur Überlagerung von Konvektionsströmungen und solchen, die durch Lorentzkräfte entstehen. Das wirkt sich auf die Verteilung der Dichte und der Brechzahl des erstarrten Glases aus. Der Vortrag endet mit einem Ausblick auf mögliche Anwendungen.
Vortrag am 11.2.2005
Svante Pääbo (Leipzig), Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse:
Dr. med. sci., Professor für Genetik und Evolutionsbiologie an der Universität Leipzig und Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie Leipzig; am 13. Februar 2004 zum Ordentlichen Mitglied der Mathematisch-naturwissenschhaftlichen Klasse gewählt.
Hauptarbeitsgebiete: molekulare Genetik, Anthropologie, evolutionäre Biologie, Begründer der Molekularen Archäologie.
Der Ursprung des Menschen aus genetischer Sicht
Der Mensch und seine nächsten lebenden Verwandten, die Menschenaffen, unterscheiden sich in einer großen Anzahl von körperlichen und geistigen Eigenschaften. Im Gegensatz dazu zeigt der Vergleich von DNA-Sequenzen lediglich einen Unterschied von 1,2 %. Am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig untersuchen wir die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Menschen und Menschenaffen aus psychologischer, kultureller, kognitiver und genetischer Sicht. Ausgehend von der vor kurzem fertig gestellten Genomsequenz des Schimpansen werde ich eine Übersicht über einige unserer genetischen Arbeiten geben. Insbesondere werde ich neue vergleichende Untersuchungen zur Genaktivität in Gehirn, Leber, Nieren, Hoden und Herz von Menschen und Schimpansen besprechen. Die Ergebnisse zeigen, dass in Geweben, in denen sich die Genaktivität relativ wenig geändert hat, die DNA-Sequenzen der dort aktiven Gene sich ebenfalls wenig verändert haben. Dies ist zum Beispiel im Gehirn der Fall. Diese und andere Beobachtungen deuten darauf hin, dass sich sowohl die DNA-Sequenzen als auch die Genaktivität selektiv neutral verändern, d.h., die meisten solcher Unterschiede, die wir zwischen Mensch und Schimpanse beobachten, sind wahrscheinlich ohne funktionelle Bedeutung. In den vorliegenden Daten finden wir allerdings zwei Ausnahmen zu dieser allgemeinen Beobachtung: (1) viele Gene, die in den Hoden aktiv sind, haben sich wahrscheinlich aufgrund positiver Selektion verändert; (2) auf der Linie zum Menschen ist eine Beschleunigung der Evolution der Gene und der Genaktivität zu beobachten, die ebenfalls auf positive Selektion hindeuten kann.
Relevante Referenzen:
-
Enard, W., Khaitovich, P., Klose, J., Zöllner, S., Heissig, F., Giavalisco, P., Nieselt-Struwe, K., Muchmore, E., Varki, A., Ravid, R., Doxiadis, G.M., Bontrop, R.E., and Pääbo, S.: Intra- and interspecific variation in primate gene expression patterns. Science 296: 340–343 (2002).
-
Enard, W., and Pääbo, S.: Comparative primate genomics. Ann. Rev. Genomics Hum. Genet. 5: 351-78 (2004).
-
Khaitovich, P., Weiss, G., Lachmann, M., Hellmann, I., Enard, W., Muetzel, B., Wirkner, U., Ansorge, W., and Pääbo, S.: A neutral model of transcriptome evolution. PLoS Biology 2: 682–689 (2004).
Vortrag am 14.1.2005
Helmut Eschrig (Dresden), Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse:
Dr. rer. nat., Professor für Festkörperphysik an der Technischen Universität Dresden; Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für Festkörper- und Werkstoffforschung Dresden e.V.; am 10. März 2000 zum Ordentlichen Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Sächsischen Akademie der Wissenschaften gewählt.
Hauptarbeitsgebiete: Quantentheorie des Festkörpers, Dichtefunktionaltheorie, Theorie des Magnetismus und der Supraleitung.
Die Metallate – Struktur und Bindung einer modernen Stoffklasse
Nach der Entdeckung der Hochtemperatur-Supraleiter im Jahr 1986 hat die Erforschung anorganischer Festkörper in Physik und Chemie einen starken Aufschwung genommen. Eine enorm große Zahl von Verbindungen wurde erstmals oder wieder synthetisiert, einkristallin dargestellt und insbesondere bei tieferen Temperaturen systematisch untersucht. Die Metallate – halbleitende oder metallische Verbindungen der Grundform KTOn, wobei K ein Kation eines Hauptgruppenelements (oder eines Lanthanids) und TOn ein oxidisches Anion mit einem Übergangsmetall T ist – zu denen auch die Hochtemperatur-Supraleiter gehören, bilden hierbei eine ständig wachsende Stoffklasse, die besonders im Fokus der Forschung steht. Dabei interessieren insbesondere ihre reichhaltigen magnetischen Phasenübergänge, Ladungs- und Orbitalordnungsübergänge mit oft dramatischen Eigenschaftsänderungen, multiferroisches Verhalten (Kopplung von Ferroelektrizität mit (Anti-)Ferromagnetismus und damit Beeinflussung der Magnetisierung durch elektrische Felder und umgekehrt der Polarisation durch Magnetfelder), Spin-Ladungs-Trennung, magnetokalorische Effekte usw. Dies alles wird natürlich auch unter dem Gesichtspunkt technischer Anwendungen in Spintronik, Optoelektronik, Kryotechnik usw. gesehen, wenngleich der Weg dahin oft noch weit ist.
Grundlage für das Verständnis dieser oft exotischen Eigenschaften ist die für diese Stoffklasse typische kristalline Struktur, die eine ein-, zwei- oder dreidimensionale räumliche Vernetzung der anionischen Komplexe beinhaltet mit jeweils charakteristischen Koordinationen innerhalb dieser Komplexe.
Im Vortrag werden nach einer Einführung in die Quantenphysik der chemischen Bindung für das Verständnis dieser Strukturen wichtige Bildungsprinzipien an ausgewählten Beispielen von Kupraten und Vanadaten erklärt. Dabei wird auf einen wichtigen Unterschied zwischen den im Periodensystem der Elemente links und rechts stehenden Übergangsmetallen aufmerksam gemacht. Der Fokus der Darlegung liegt auf dem Strukturverständnis; der Zusammenhang mit speziellen Eigenschaften wird kurz angesprochen.
Vortrag am 14.1.2005
Christoph Krummacher (Leipzig), Mitglied der Philologisch-historischen Klasse:
Dr. theol., Direktor des Kirchenmusikalischen Instituts der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy” Leipzig, Universitätsorganist der Universität Leipzig, Organist im In- und Ausland, Lehrtätigkeit auf den Gebieten Künstlerisches Orgelspiel, Liturgik und Hymnologie; am 8. Februar 2002 zum Ordentlichen Mitglied der Philologisch-historischen Klasse der Sächsischen Akademie der Wissenschaften gewählt.
Hauptarbeitsgebiete: Fragen der Orgelinterpretation und der Grenzgebiete von Theologie und Kirchenmusik.
Die Zumutungen zeitgenössischer Musik
Auch wenn es d i e „Neue Musik” nicht gibt, vielmehr die Musik des letzten Jahrhunderts eine Vielfalt unterschiedlichster technischer und stilistischer Möglichkeiten und Erfahrungen erprobt hat und aufweist, haftet zeitgenössischer Musik allemal etwas Verstörendes, den Hörer immer noch und immer wieder Irritierendes an. Tonal-klangliche, formale und rhythmische Hörgewohnheiten werden enttäuscht, andere Hörerwartungen sind schwer auszubilden. Ratlosigkeit ist weit verbreitet und äußert sich nicht selten als aggressive Ablehnung.
Es kann in den Überlegungen dieses Vortrages nicht darum gehen, die Musik des 20. Jahrhunderts umfassend zu dokumentieren und darzustellen. Sofern aber unsere Hörgewohnheiten von der Musik früherer Jahrhunderte, vor allem des 19. Jahrhunderts, geprägt sind und wir, grundsätzliche Offenheit der Musik gegenüber vorausgesetzt, an ihr unser Verständnis für musikalischen Sinn ausgebildet haben (was übrigens weniger selbstverständlich ist, als man gemeinhin annimmt), sollten wir uns fragen, welche Erwartungen an Musik legitim sind, welche Umorientierungen von uns als Hörern „gefordert” werden können, welche Verstörungen und Zumutungen wir der Musik zubilligen können oder gar zubilligen müssen. Ist die gewohnte Balance zwischen Emotionalität und Intellektualität der Musik verloren gegangen? Oder sind unsere Erwartungen derart festgefahren, dass uns der Sprung ins Ungewohnte als eine Zumutung erscheint, der wir uns unter Berufung darauf, was Musik und Kunst vorgeblich zu sein hätten, verweigern könnten?