Vortrag zur Öffentlichen Herbstsitzung am 11.12.2020
Prof. Dr. phil. habil. Daniel Fulda (Halle)
Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, am 12.02.2016 zum Ordentlichen Mitglied der Philologisch-historischen Klasse gewählt.
Abschied von der alten Bundesrepublik. Eine Gedichtanalyse als Beitrag zum Einheitsjubiläumsjahr
Die 30-Jahr-Feiern zur friedlichen Revolution von 1989 und zur darauf folgenden Vereinigung waren von kritischem Nachdenken über die tiefen Einschnitte bei den gesellschaftlichen Strukturen und im alltäglichen Leben geprägt, mit denen die Menschen in den neuen Bundesländern zurechtkommen mussten. Der Vortrag nimmt andere Umbrüche in den Blick, nämlich einen Abschied von lange herrschenden Gewissheiten, der sich im ästhetischen, literarischen und intellektuellen Denkstil der alten Bundesrepublik vollzog. Zweifellos waren die Umbrüche im Osten weitaus dramatischer. Wie gezeigt werden soll, ist längst aber auch die alte Bundesrepublik ein ‚fernes Land‘. Anders, als es sich manche zu wünschen scheinen, können wir nicht dahin zurück.
Interpretiert wird ein Gedicht von gerade einmal zehn Versen oder 110 Silben (einschließlich des Titels „Zauberwürfel“), das Dirk von Petersdorff 2011 publiziert hat. Es re-präsentiert die späten 1970er und die 80er Jahre der alten Bundesrepublik durch die Leserwissen mobilisierende Evokation sehr weniger, aber charakteristischer Zustände und markiert zugleich deren Vergangensein. Der sogenannte Zauberwürfel fungiert dabei als paradigmatisches Objekt, das nicht nur als Teil der Objektwelt der alten Bundesrepublik signifikant ist, sondern darüber hinaus eine aufschließende Funktion hat, indem es geistes- und mentalitätsgeschichtliche Bezüge auf Romantik, Moderne und Postmoderne herstellt. Denn die am Zauberwürfel exemplifizierte Opposition zwischen traumwandlerischer Sicherheit und Nicht-mehr-wissen-wie sowie die multisensoriell durchgespielte Dialektik von Fernsein und Erinnerung haben außer einem (auto-)biographischen Erfahrungsgehalt auch einen spezifischen und signifikanten Platz in zwei Jahrhunderten Ästhetik und Literatur, die durch intertextuelle Anspielungen aufgerufen werden.
Von der empörten Erregung, die in der deutschen Öffentlichkeit seit einigen Jahren herrscht, und den zeitgeschichtlich verursachten Verunsicherungen, ja ‚Traumatisierungen‘, die bezüglich der östlichen Bundesländer dafür verantwortlich gemacht werden, ist die Stimmung des „Zauberwürfel“-Gedichts so weit entfernt wie nur möglich. Das gilt sowohl für die Haltung des lyrischen Ichs zur erinnerten Vergangenheit als auch für deren ästhetik- und denkgeschichtliche Einordnung, die das Gedicht durch seine Form und sprachliche Gestaltung vornimmt. Die Erinnerungen des lyrischen Ichs an tiefe Sinneseindrücke aus verheißungsvollen Adoleszenztagen sind weder von Verklärung noch von der Klage über deren Vergangensein geprägt. Indem das Gedicht als Sprachkunstwerk eine großräumig historische Deutungsperspektive eröffnet, stellen sich die in der späten alten Bundesrepublik erworbene Ambiguitätstoleranz und Fähigkeit zur Selbstironie darüber hinaus als Befreiung zu einem bejahten Pluralismus dar. In dieser Dimension können wir „Zauberwürfel“ als in der aktuellen Situation nützliche Empfehlung lesen: Für das Zurechtkommen in unserer Gesellschaft sind Pluralismus- und Ambiguitätstoleranz zweifellos Einstellungen, die sehr hilfreich sind, und man möchte wünschen, dass mehr Zeitgenossen darüber verfügen.
Vorträge am 13.11.2020
Prof. Dr.-Ing. Udo Reichl (Magdeburg)
Professor für Bioprozesstechnik an der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg, Direktor und Wissenschaftliches Mitglied am Max-Planck-Institut für Dynamik komplexer technischer Systeme, am 8. Februar 2013 zum Ordentlichen Mitglied der Technikwissenschaftlichen Klasse gewählt.
Forschungsschwerpunkte und Arbeitsgebiete: Bioprozesstechnik (Säugerzellen, Hefen, Bakterien), Downstream Processing (Separation, Chromatographie), Überwachung und Regelung von Bioprozessen, Mathematische Modellbildung und Simulation, Virale Impfstoffe.
Cell Culture-based Viral Vaccines: Process Intensification and Monitoring
Over the last decades, significant research and development activities have been targeted to design and optimize cell culture-based viral vaccine production processes. The high flexibility and scalability of cell cultures can cut weeks of production time and help to overcome limitations of traditional technologies, i.e. egg-based vaccine manufacturing platforms. Nevertheless, considering the diversity of host cell lines, the variety of viruses with their specifics in replication, and the large differences in cell-specific virus yields, the optimization of upstream and downstream processes is still a challenge for the production of potent and safe vaccines at low costs.
To overcome existing limitations, process intensification in viral vaccine manufacturing needs to take into account current Good Manufacturing Practice (cGMP) requirements. In addition, the transfer of solutions developed successfully for other biotechnological processes, i.e. in the production of recombinant proteins in CHO cells, should be considered. Besides cell line and medium design, the establishment of high cell density cultures can provide significant increases in productivity. Furthermore, the establishment of continuous processes should be promoted. Examples for high-yield production of various viruses, including influenza virus, zika virus, and MVA virus will addressed. In addition, results for the use of steric exclusion chromatography (SXC) as a single-use purification platform for viral vaccines and gene therapy vectors will be presented. Finally, options for process monitoring and the control of antigen quality will be exemplified.
Prof. Dr. rer. nat. Josef A. Käs (Leipzig)
Professor für Experimentalphysik/Physik weicher Materie mit Schwerpunkt Zellbiophysik an der Universität Leipzig; am 14. Februar 2014 zum Ordentlichen Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse gewählt.
Forschungsschwerpunkte: Beschreibung von Zellen als einen neuen aktiven Zustand weicher Materie.
Cell and Tissue Mechanics as Predictive Diagnostic Marker
In adult mammals, many tissues are solid-like, which allows the organism to exert shear stresses and move. During processes like embryonic development, wound healing or metastasis, tissues need to behave like a fluid, facilitating cell migration over large distances. Consequentially, multiscale mechanics as a constraint to motion is central to the functioning of an organism. While genes and signaling pathways exert exquisite control over cell properties, it is increasingly clear that mechanical interactions play an important role in sculpting collections of cells into functional three-dimensional organisms and suppressing malignancy. Each contact of a cell with the outside world inherently includes mechanical interactions.
Vortrag am 9.10.2020
Prof. Dr. Florian Steger (Ulm)
Universitätsprofessor und Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Ulm, am 12. April 2019 zum Korrespondierenden Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse gewählt.
Arbeitsschwerpunkte: Fragen der Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin: Forschungsethik, Klinische Ethik, Gute Wissenschaftliche Praxis; Politisierte Medizin; Kulturgeschichte der Medizin seit der Antike.
SARS-CoV-2-Pandemie: Medizinhistorische und ethische Perspektiven
Ein Blick in die Seuchengeschichte, einmal mehr der in die Antike, kann für ein Verständnis der gegenwärtigen Pandemie lohnenswert sein. Gerade die gesellschaftlichen und sozialen Folgen werden durch einen historischen Bogen in ihrem Kontext verständlich. Es lohnt sich also für ein Verständnis der SARS-CoV-2-Pandemie zurückzublicken und die Kontexte sichtbar zu machen.
Schon bei der Attischen Seuche in Athen, also vor 2500 Jahren, waren Abstand halten, auf den Nächsten achten und die Solidarität der Immunisierten zentrale Themen der Diskussion. Gerade heute, als ich diesen Text verfasste, war der Immunitätsausweis und die hiermit verbundenen Sachfragen und Konsequenzen Gegenstand der Tagesberichterstattung, nachdem der Deutsche Ethikrat hierzu eine Stellungnahme vorgelegt hatte. Alter Wein in neuen Schläuchen? Nicht unbedingt, aber der Kontext, dass die erlangte Immunität in einer Epidemie gesellschaftliche Konsequenzen hat, wohl schon. Schon in den Homerischen Epen sind Seuchen Thema einer Verfehlung gegenüber den Göttern. Bei Thukydides wird das Seuchengeschehen in seiner Bedeutung für heute dann greifbar, wenn das zentrale Gebot des Abstandhaltens beschrieben wird, immerhin einer der drei Aspekte der AHA-Formel. Zudem werden die psychosozialen Folgen bis hin zur Gefahr des sittlich-moralischen Verfalls deutlich, man denke nur an die Situation für ältere Menschen in den Alten- und Pflegeheimen oder auch an die vielen Bilder, die wir von chronisch unterfinanzierten Gesundheitssystemen bis hin zu den Schwierigkeiten einer ordentlichen Bestattung gesehen haben. Und schließlich noch etwas, das man bei Thukydides lernen kann: Diejenigen, die die Seuche durchgemacht haben, können wieder vermehrt anpacken. Eine heute weitgehend kontroverse Frage, die aber immerhin schon den Deutschen Ethikrat beschäftigt hat.
Von der Bedeutung und den Folgen der Immunität bis hin zu gesellschaftlichen Folgen, nicht zuletzt auch der Einschränkung von demokratischen Grundrechten, reicht also der Diskussionsrahmen. Gerade in einer gesundheitlichen Gefährdungssituation wie in einer Pandemie sollten alle Menschen einen gleichberechtigten und gleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung erhalten. Ist das politisch immer im Blick? Rasch wurden Stimmen laut, die Intensivkapazitäten müssten für die an den Folgen des Virus Schwererkrankten reserviert werden. Mag man hierfür auch gute Argumente finden können, gleichzeitig bleiben aber viele Patientinnen und Patienten nicht angemessen versorgt. Mittlerweile liegen die ersten Studien vor, die empirisch zeigen, welche Konsequenzen eine solche Priorisierung hat: Auch an einem Tumor erkrankte Patientinnen und Patienten wurden eine Zeit lang nicht angemessen versorgt. Gleiches gilt für Herz-Kreislauf-Erkrankte und viele andere mehr. Wir haben viel über Priorisierungskriterien für die Zuweisung von Intensivkapazitäten diskutiert und mittlerweile auch überlegte Kriterien auf dem Tisch, weniger haben wir die gleichzeitig stattgefundene Unterversorgung kranker Menschen im Blick gehabt. Es steht offen, ob hier der Grundsatz, dass kein Mensch verhandelbar ist, weil jedes Menschen Würde unantastbar ist, wirklich gewahrt wird. Gleiches könnte sich wiederholen, wenn tatsächlich ein Impfstoff verfügbar wird.
Die Pandemie hat politisch dazu geführt, dass unsere Freiheitsrechte, für die wir als Zivilgesellschaft gekämpft haben, eingeschränkt wurden. Dies hat zu Protest geführt, der teilweise wiederum politisch instrumentalisiert wurde. Hier sollte man wirklich den Sittenverfall im Blick behalten. Denn in der Tat kann die Pandemie für politische Interessen genutzt werden. Die Angemessenheit der Einschränkung von Freiheitsrechten ist kritisch zu prüfen. Und schließlich sind auch die wirtschaftlichen Folgen beachtlich und machen kluge politische Entscheidungen alles andere als einfach. Wer will Lockerungen verantworten, wenn hier einzelne Leben gefährdet werden.? Aber: Wir dürfen Menschen nicht gegen Menschen aufrechnen.
Wegen der Corona-Gefährdungslage mussten die Sitzungen vom 13.3. bis zum 12.6.2020 leider entfallen.
Vorträge am 13.3.2020
Wegen der Corona-Gefährdungslage musste die Sitzung am 13.3.2020 entfallen.
Prof. Dr. med. habil. Michael Stumvoll (Leipzig)
Professor für Innere Medizin/Endokrinologie an der Universität Leipzig, Direktor der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Nephrologie am Universitätsklinikum Leipzig, am 13.04.2018 zum Ordentlichen Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse gewählt.
Forschungsschwerpunkte und Arbeitsgebiete: Pathogenese des Typ-2-Diabetes und Adipositas - Pathogenese von Insulinresistenz und Betazell-Dysfunktion - Genetik von Diabetes-assoziierten Krankheitsphänotypen - Genomweite Assoziationsstudien, Populationsgenetik (Leiter „Sorbenstudie“) - Regulation von Hunger und Sättigung (fMRI) - Adipozytokine und Fettgewebe - Prävention von Adipositas und Typ-2-Diabetes.
Evolution des Metabolischen Syndroms
Das Metabolische Syndrom ist der Inbegriff einer modernen Zivilisationskrankheit und beschreibt das gemeinsame Auftreten von Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörung und Diabetes und hat als gemeinsame Ursache Überernährung und „ungünstige“, d.h. viszerale Fettvermehrung gemessen als Taille-Hüft-Quotient. Abgesehen von unnatürlicher Käfig- oder Masttierhaltung bzw. Winterspeck, der dann aber auch im Winter komplett aufgebraucht wird, scheint die viszerale Adipositas eine sehr menschliche Krankheit zu sein. Wir Menschen sehen uns ja gerne als die Krönung der Evolution, auch wenn es rein anhand von Individuenzahlen größere Erfolgsgeschichten gibt. Der sogenannte Erfolg der menschlichen Evolution wird ja gerne und durchaus subjektiv mit der hohen Leistungsfähigkeit unseres Gehirns dokumentiert. Andererseits ist aber das menschliche Gehirn auch im Ruhezustand eine energetische Maximalherausforderung, macht es doch fast ein Viertel des Grundumsatzes aus – und die Energiequelle ist ja ausschließlich Glukose. Mit großem Abstand folgt hiernach der Schimpanse, dessen Gehirn nur noch 8% des Grundumsatzes benötigt. Damit ist das menschliche Gehirn nicht nur ein neurobiologisches Evolutionsprodukt, sondern auch eines der dazu passenden Energieumverteilung, denn die für das teuere Gehirn musste ja irgendwo eingespart worden sein. Im Zentrum dieser Betrachtungen hier steht daher biologische und kulturhistorische Evolution von Glukose, Fett und Fettspeicherung sowie Energiebilanz.
Zuckermoleküle als ältesten und bewährtesten Energieträgern dürften in der Ursuppe vor rund 4 Milliarden Jahren entstanden sein. Fettspeicherung geht zurück bis zu Fetttröpfchen im Darm von Würmern, den Fettbodies von Dosophila, und als Fettzellen dann ab Karpfen, aber noch nicht im Hai, auch schon mit Leptinsekretion. Braunes Fettgewebe findet sich nicht in Vögeln, aber dann in kleinsten Säugern. Der erste entscheidende Schritt der Energieersparnis gelang mit dem aufrechten Gang vor 8-4- Mio. Jahren, der nachweislich ökonomischsten Fortbewegungsmethode. Der Bewegungsapparat des Menschen ist so günstig gebaut, dass pro Kilogramm Körpergewicht und Meter Fortbewegung um einen Faktor 6 weniger Sauerstoff verbraucht wird, als bei allen anderen Landvögeln oder Landsäugern. Der entscheidende Schritt vollzog als Enkephalisation, einem Konvolut aus Garmachung von Nahrung/Feuer, Werkzeuggebrauch und enormem Hirnwachstum vor 1-2 Mio. Jahren (400 ml noch bei Australopithecinen, 800 ml Homo habilis und 1000 ml H. Erectus).
Für Fettleibigkeit gibt es älteste Hinweise aus den altsteinzeitlichen Figurinen, wie der Venus von Willendorf, die etwa 22000 v.C. hergestellt wurde. Sie zeigt eine ausgeprägte gynoide Adipositas, geschätzter BMI 40 kg/m2, die man mit eher als harmlose, da überwiegend subkutan angelegte Adipositas einstufen könnte. In dieser Jäger- und Sammlerzeit war die kalorische Versorgungssituation äußerst mühsam und echte, dauerhafte Überernährung priesterinnen-ähnliche Persönlichkeiten vorbehalten. Erst mit erfolgreichem Ackerbau und Viehzucht sowie der dadurch möglichen Sesshaftigkeit im „Fruchtbaren Halbmond“ war die energetische Grundlage des flächendeckenden Metabolischen Syndroms geschaffen: weite kalorische Wanderungen waren nicht mehr nötig, Kalorien konnten in großen Mengen gezüchtet werden. Mit den sich verdichtenden Menschansammlungen (als älteste Stadt der Menschheit gilt Jericho im Jordantal, ca. 10000 v.C.) und dem Zusammenleben mit domestizierten Wildtieren begann außerdem die „Erfolgsgeschichte“ moderner Infektionskrankheiten (Tuberkulose vom Rind, Pest über die Ratte usw.).
Es folgen die großen adipogenen Erfindungen der Menschheit: das Rad und die Dampfmaschine machen Muskelarbeit obsolet, die Töpferscheibe revolutioniert das Garmachen und Aufbewahren von Nahrung und die landwirtschaftliche Revolution, die im Zuge des Vietnam-Kriegs in den USA zu einer politisch gewollten Überschwemmung der Bevölkerung mit billigen Kalorien aus Maisstärke (in jedem Mars-Riegel!) führte, die bis heute als Ausgangspunkt der Adipositas-Epidemie in den USA und damit verzögert auch im Rest der Welt gesehen wird. In der Wissenschaft versucht man die engen Zusammenhänge von Belohnungssystem und Essverhalten zu verstehen, um Hyperphagie zu bremsen, ohne gleichzeitig Lebensfreude zu nehmen. Evolutionäre offenbar so eng gekoppelt, dass es derzeit unlösbar erscheint – bzw. Fortschritt nur in winzigen Schritten passiert. Schneller geht wissenschaftlich am Verständnis einer uralten symbiotischen Partnerschaft voran: zwischen Mensch und Bakterien. Das Darm-Mikrobiom mag auch einen Anteil immer leicht „entzündeten“ viszeralen Fett haben. Das wäre therapeutisch leichter zugänglich. Nicht therapiert werden sollte die urmenschliche Freude am Essen sowie die soziale Komponente von Mahlzeiten. Die intrinsische Kalorieneinspar-Bequemlichkeit des Menschen wird im Zweifel immer dafür sorgen, sich so zu verhalten, dass man mit weniger Energieverbrauch auskommt. Mit den modernen technischen Möglichkeiten sitzen wir daher gerade in einer interessanten adipo- und diabetogene Falle, dem perfekten Nährboden für das Metabolische Syndrom, aus der wir uns aber mit all unserer Schläue auch wieder befreien.
Prof. Dr. phil. habil. Hans Ulrich Schmid (Leipzig)
Professor für Geschichte der deutschen Sprache und für Historische Sprachwissenschaft an der Universität Leipzig; am 11. Februar 2005 zum Ordentlichen Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse gewählt, Projektleiter des „Althochdeutschen Wörterbuchs“, Vorsitzender der Projektbegleitenden Kommission der „Deutschen Inschriften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit“.
Forschungsgebiete: Historische Laut- und Wortgeographie, Epigraphik des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Lexikographie des rezenten Bairischen und des Neuisländischen, Wortbildung des Althochdeutschen und des Bairischen.
Hand und Hals in mittelalterlichen Rechtssprachen
Von Jacob Grimm stammt das vielzitierte Dictum, dass „Recht und Poesie miteinander aus einem Bette aufgestanden waren“. Anhand ausgewählter wortgleicher oder wortähnlicher Beispiele aus mittelalterlichen Rechtstexten des gesamtgermanischen Sprachraums (Mittelhochdeutsch, Mittelniederdeutsch, Altfriesisch, Altenglisch, altnordische Sprachen), vereinzelt auch aus frühmittelalterlichen lateinischen Volksrechten mit volkssprachlichen Einschüben, soll gezeigt werden, wie feste, bildhafte, mitunter durchaus poetisch anmutende feste Wendungen – heute würde man sagen „Textbausteine“ – in historischen Rechtsdokumenten erscheinen. Dabei sollen Fügungen mit den Kernwörtern Hand und Hals exemplarisch vorgestellt werden. Etwa wenn es in einem Quedlinburger Stadtbuch heißt: Swe de neste is von der spinnenden hant, de scal sech der rade vnderwinden ‘wer der Nächst(verwandt)e ist von mütterlicher Seite, soll sich um den Hausrat kümmern’. Das Wort hant bezieht sich hier nicht wörtlich und konkret auf die Hand als Teil des Körpers. Vielmehr enthält die Gesamtfügung ‘von spinnender Hand’ den aktuellen Sinn ‘mütterlicherseits’. Die historischen Rechtssprachen der Germania sind reich an derartigen Ausdrucksweisen. Ob sie auf ein „gemeinsames Bett“ von Recht und Poesie zurückzuführen sind, mag dahingestellt bleiben.
Vorträge am 14.2.2020
Prof. Dr. Ir. Marc-Olivier Coppens (London)
Ramsay Memorial Professor & Head of Department of Chemical Engineering, Director of the Centre for Nature-Inspired Engineering (CNIE), University College London (UCL), am 13. April 2018 zum Korrespondierenden Mitglied der Technikwissenschaftlichen Klasse gewählt.
Forschungsschwerpunkte und Arbeitsgebiete: Von der Natur inspirierte Verfahrenstechnik (NICE: Nature-Inspired Chemical Engineering), Diffusion, Katalyse- und Reaktionstechnik, hierarchisch strukturierte Nanomaterialien, Fluidisierung, Partikeltechnologie, Brennstoffzellen, Membranen.
Von der Natur inspirierte Lösungen in den Ingenieurwissenschaften
Zu unseren größten Herausforderungen zählen Energie, Wasser, Umwelt, schwindende Ressourcen, nachhaltige Produktion und gesundes Altern. Diese globalen Herausforderungen werden immer dringlicher. Das Chemieingenieurwesen verfügt über grundlegendes Werkzeug, diesen zu begegnen: Bilanzbetrachtungen, Systemmodellierung, Thermodynamik, Analyse von Kinetik und Transportphänomenen. Dennoch muss die Art und Weise, wie diese Werkzeuge beim Prozess- und Produktdesign eingesetzt werden, neu überdacht werden. Die Bewältigung großer Herausforderungen, so wie sie von den Vereinten Nationen als Ziel einer nachhaltigen Entwicklung („Sustainable Development Goals“, SDGs) genannt wird, erfordert einen schrittweisen Wandel durch transformative Ansätze und interdisziplinäres Querdenken, die über inkrementelle Variationen traditioneller Designs hinausgehen.
Die Natur ist voll von gut integrierten, "intensivierten" Systemen, die sich im Verlauf von Jahrmillionen optimiert haben und die so, dank der ihnen innewohnenden, auf skalierbaren Prozessen beruhenden Eigenschaften, den einschneidenden Bedingungen genügen können, die für ihr Überleben erfüllt sein müssen. Wir schlagen vor, die Natur als Inspirationsquelle zu nutzen, indem wir die grundlegenden Mechanismen, die die erwünschten Eigenschaften (wie Skalierbarkeit, Widerstandsfähigkeit oder Effizienz) untermauern, nutzen und diese auf technische Entwürfe anwenden, mit geeigneten Anpassungen, um die verschiedenen Kontexte von Technologie und Natur zu befriedigen. Wir haben dies als „Von der Natur inspiriertes Chemie-Ingenieurwesen“ ("Nature-Inspired Chemical Engineering", NICE) bezeichnet, und die Design- und Innovationsmethodik, um es im weiteren Sinne zu praktizieren, als „Von der Natur inspirierte Lösungen in den Ingenieurwissenschaften“ („Nature-Inspired Solutions for Engineering“, NISE).
Die NISE-Methodologie ist thematisch, strukturiert um allgegenwärtige Mechanismen in der Natur, wie z.B: (1) hierarchische Transportnetzwerke; (2) Kräftegleichgewichte; (3) dynamische Selbstorganisation; und (4) Ökosysteme, Kontrolle und Modularität. NISE ist ebenfalls systematisch, erkennt ein geeignetes Konzept (z.B. fraktale Skalierung innerhalb eines bestimmten Bereichs) und wendet es dann auf ein Design (z.B. einen einheitlichen, skalierbaren Flüssigkeitsverteiler) an, das die Implementierung im Rahmen einer Anwendung (z.B. Fluidisierung) unterstützt. Aufgrund seiner Systematik ist NISE vielseitig und ermöglicht die Anwendung validierter Prinzipien auf neue Probleme (z.B. von der Gas/Feststoff-Fluidisierung bis hin zu Brennstoffzellen für die Energie- und Umwelttechnik).
Ich werde Beispiele dafür geben, wie die NISE-Methodik auf die Intensivierung des Betriebs chemischer Reaktoren und (heterogener, bio- und elektro-)katalytischer Prozesse, von Membrantrennungen und von funktionalen Materialien für die Raumfahrttechnik und biomedizinische Anwendungen, von Dentalmaterialien bis zur Krebsimmuntherapie angewendet wird. Wir hoffen, dass sich der NISE-Ansatz zu einem Motor für Innovationen im Design, für unkonventionelles Denken und als Leitfaden für Lösungen für einige unserer großen Herausforderungen im Ingenieurwesen entwickeln kann.
Prof. Dr. Uwe Schirmer (Jena)
Professor für Thüringische Landesgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, am 12.02.2010 zum Ordentlichen Mitglied der Philologisch-historischen Klasse gewählt.
Forschungsschwerpunkte und Arbeitsgebiete: Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des mitteldeutschen Raumes, ferner: allgemeine Agrar- und Siedlungsgeschichte
Der Finanzplatz Leipzig (1458–1620). Bargeldloser Zahlungsverkehr – Geldwechsel – Rentengeschäfte
Die Privilegierung der Leipziger Messen durch Kaiser Maximilian I. in den Jahren 1497 und 1507 wird gemeinhin als Ausgangspunkt einer beeindruckenden wirtschafts- und handelsgeschichtlichen Entwicklung interpretiert. Indes war das „Messe- und Marktsystem Leipzig“ bereits vor 1490 endgültig ausgeprägt. Die drei großen Leipziger Jahrmärkte zu Neujahr, Ostern und Michaelis sowie der Naumburger Peter-und-Pauls-Markt waren spätestens seit 1460/70 weithin anerkannte Finanzplätze, die an den überregionalen bargeldlosen Zahlungsverkehr angeschlossen waren – schwerpunktmäßig nach Nürnberg und Frankfurt am Main. In dem Vortrag werden die Gründe erörtert, warum die vier Märkte zu Leipzig und Naumburg seit ca. 1470 (im Vergleich mit den großen Jahrmärkten in Erfurt, Halle/S. und Magdeburg) eine dominierende Stellung eingenommen haben und warum auf ihnen nicht nur Waren und Güter aus aller Herren Länder gehandelt, sondern vor allem auch Finanzgeschäfte abgewickelt worden sind (bargeldloser Zahlungsverkehr, Geldwechsel, Handel mit Kuxen und Staatspapieren, Rentengeschäfte). Am Beispiel des Stadtrates von Leipzig – der auf diesen Märkten als einer der finanzstärksten Marktakteure agiert hat (faktisch als „Bankhaus“) – wird zudem exemplarisch gezeigt, wie es Spekulanten am Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts gelang, den Stadtrat in den Konkurs zu treiben.
Vorträge am 10.1.2020
Prof. Dr.-Ing. Roland Kasper (Magdeburg)
Professor für Mechatronik an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, am 10. März 2000 zum Ordentlichen Mitglied der Technikwissenschaftlichen Klasse gewählt.
Arbeitsgebiete: Modellierung, Simulation, Berechnung und Optimierung mechatronischer Systeme, Steuerung und Regelung mechatronischer Systeme, Echtzeitsysteme, Mechatronische Aktuatoren, Leichtbau-Elektromotoren.
Der Elektromotor ganz leicht
Dieser Beitrag stellt ein neues E-Motor Design vor, das höchste Leistungs- und Drehmomentdichte mit minimalem Gewicht und Kosten verbindet. Die Luftspalt-Wicklung des Motors reduziert den Eisen- und Kupferanteil und damit das Gewicht und die Kosten erheblich. Die nutenlose Konstruktion vermeidet ein Rastmoment und zeigt einen sehr ruhigen Lauf. Der einfache geometrische Aufbau auf Basis von zwei dünnwandigen Hohlzylindern unterstützt eine automatisierte Fertigung, was ebenfalls zu sehr geringen Kosten beiträgt. Eine flache, nutenlose Statorbauweise steht für eine homogene Temperaturverteilung und eine sehr effiziente Kühlung, die eine hohe kurzzeitige Überlastung ermöglicht. Dies ermöglicht Direktantriebsanwendungen wie Radnabenmotoren oder andere mobile Antriebe, bei denen ein sehr geringes Gewicht erforderlich ist. Radnabenantriebe profitieren von dem hohen Drehmoment und dem sehr geringen Gewicht dieser Motoren und eröffnen neue Fahrzeugkonzepte und Anwendungen im elektrischen und autonomen Fahren. Hochgeschwindigkeitsantriebe profitieren von geringen Verlusten und hohen Wirkungsgraden für sehr kompakte und leistungsstarke Antriebe bei sehr geringem Gewicht.
In einer ersten Anwendung wurde ein 40 kW Radnabenmotor für eine 15-Zoll-Felge entwickelt, der ein Nenndrehmoment von 300 Nm über den gesamten Drehzahlbereich bis 1350 U/min liefert. Das Gesamtgewicht dieses Prototyps beträgt nur 20 kg. Nach umfangreichen Tests mehrerer Prototypen auf einem Motorprüfstand wurden zwei Radnabenmotoren in die Hinterräder eines Smart 4-2 integriert und auch im Straßenbetrieb getestet. Parallel zu den Forschungsanstrengungen in der Entwicklung der Motorentechnologie wurden erste Industrialisierungsprojekte gestartet, um die Technologie in reale kommerzielle Anwendungen umzusetzen.
In einem zweiten Entwicklungsschritt wurde eine zusätzliche Wicklung in den Stator integriert, die das Drehmoment und die Leistung des Motors nahezu verdoppelt. Dieser Schritt konnte ohne signifikante Gewichtszunahme durchgeführt werden, da beide Wicklungen weder geometrisch noch durch ihre Magnetfelder kollidieren. Andererseits teilen sie sich das bereits vorhandene Dauermagnetfeld und tragen beide gleichermaßen zum Drehmoment bei. Um Zeit und Geld zu sparen, wurde in einem ersten Schritt ein vorhandener Radnabenmotor der Generation 1 zum Prototyp der Generation 2 umgebaut. Auch unter diesen nicht optimalen Bedingungen liefert dieser Prototyp ein Nenndrehmoment von 450 Nm und eine Nennleistung von 60 kW bei exakt gleicher Baugröße und nahezu gleichem Gewicht. Der Funktionsnachweis des Prinzips wurde erfolgreich auf einem Motorenprüfstand erbracht. Echte Generation 2 Prototypen mit einem Nenndrehmoment von 600 Nm in einer 16-Zoll-Felge wurden konstruiert und aufgebaut. Der Vortrag schließt mit einigen Betrachtungen zum Technologietransfer und zur Industrialisierung der Motortechnologie.
Dr. rer. nat. Tilmann Leisegang (Freiberg)
Gruppenleiter Energiematerialien an der Technischen Universität Bergakademie Freiberg, Institut für Experimentelle Physik, Leading Scientist an der Samara State Technical University, am 11.12.2015 zum Mitglied des Jungen Forums der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse gewählt.
Arbeitsgebiete: Strukturphysik, Kristallographie, elektrochemische Energiespeicherung, Festkörperelektrolyte, intermetallische Verbindungen; Anwendung von kristallchemischen Methoden, maschinellem Lernen und Big-Data-Konzepten in der Materialforschung.
Zur Speicherung elektrischer Energie
Angesichts der besorgniserregenden weltweiten klimatischen Entwicklungen werden immer konkretere Maßnahmen diskutiert und eingeleitet, wie beispielsweise die globale Energiewende, die auf unser Leben in zunehmendem Maße Einfluss nehmen. Allerdings, so schreibt Mary Wollstonecraft Shelley in ihrem 1818 erschienenen Roman „Frankenstein“: „Nichts ist für den menschlichen Geist so schmerzhaft wie eine große und plötzliche Veränderung“. Die Wissenschaften sind jetzt mehr denn je gefragt, die globalen Herausforderungen hinsichtlich einer nachhaltigen Entwicklung anzunehmen und verantwortungsbewusst – der Roman darf hier als Erinnerung dienen – systemische Lösungsstrategien zu entwickeln.
Optimismus angesichts der Herausforderungen der globalen Energiewende kann hier die Erkenntnis von Hermann von Helmholtz stiften: „Energie geht nicht verloren, sondern kann nur von einer Form in eine andere Form umgewandelt werden.“ Diese fasste er 1847 in seinem Energieerhaltungssatz zusammen. Dementsprechend stellen elektrochemische Energiespeicher, die sogenannten Batterien, einen wichtigen Beitrag für den Ausbau der erneuerbaren Energien und die wachsende Zahl von Elektrofahrzeugen und mobilen Endgeräten dar.
Derzeit dominieren vor allem Blei- und Lithium-Ionen-Batterien den Markt, wobei letztere rasant an Bedeutung zunehmen. Dies führt zu erheblichen zukünftigen Versorgungsrisiken für die notwendigen Rohstoffe – u. a. Graphit, Kobalt, Phosphor und Lithium –, da die erforderlichen Mengen die heutigen am Markt verfügbaren Mengen um bis zu einem Faktor 10 übersteigen. Daher erscheint die Suche nach neuen Materialsystemen zielführend, um so die Batterietechnologien weiter zu diversifizieren und damit die Rohstoffversorgungsrisiken sowie sozialen und ökologischen Auswirkungen ihrer Beschaffung zu minimieren. Dementsprechend müssen die neuartigen Materialsysteme leicht verfügbare bzw. effizient herstellbare Rohstoffe vereinen sowie gleichzeitig höchste Energiedichten der Batterien ermöglichen und eine hohe Sicherheit während ihres Betriebs gewährleisten. Die Materialforschung muss diese Anforderungen an neue Materialien und Materialkonzepte zu überführen versuchen. Hier erscheinen die sogenannten Post-Lithium-Technologien, wie u. a. die Aluminium-Ionen-Batterie, als vielversprechend.
Der Vortrag wird mit der Darstellung ausgewählter historischer Begebenheiten beginnen, die zur Begründung der Elektrochemie und der elektrochemischen Energiespeicherung führten und schließlich in der Erfindung der bisher am besten kommerzialisiertesten Batterie, der Lithium-Ionen-Batterie, mündeten, für die es 2019 den Nobelpreis für Chemie gab. Es werden dann Bedarfe und Randbedingungen für neuartige elektrochemische Energiespeicher diskutiert und daraus die Aluminium-Ionen Batterie als eine mögliche Post-Lithium-Technologie vorgeschlagen. Abschließend werden eigene Arbeiten zur Identifizierung entsprechender Materialien vorgestellt, die neben kristallchemischen Methoden auch „Big Data“- und „Machine Learning“-Ansätze nutzen.