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Ingeborg Köppe: Das Althochdeutsche Wörterbuch: Konzeption – Materialkorpus – Bedeutungswörterbuch und Kulturgeschichte

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Vaterunser (um 790), Abrogans-Handschrift der Stiftsbibliothek St. Gallen

Zunächst möchte ich mich im Namen des Wörterbuchteams bei Ihnen bedanken, daß Sie mit uns feiern. Der Zeitdruck war groß, den von der Evaluierungskommission vorgegebenen Zeitpunkt für den Abschluß des IV. Bandes des Althochdeutschen Wörterbuches einzuhalten. Daß er erst jetzt ausgedruckt wurde, hat drucktechnische Gründe. Pünktlich zur Jahreswende 2000/2001 lag das Manuskript der letzten 3 Lieferungen abgeschlossen vor. Aber auch heute noch gilt, was Steinmeyer angesichts seiner Glosseneditionen feststellte: “anstrengungen genug wird es noch kosten, ehe wir den überkommenen althochdeutschen wortschatz völlig verstehen”. Heute möchten wir Ihnen unser Wörterbuch vorstellen. Um in der Kürze der Zeit ein möglichst umfassendes Bild entstehen zu lassen, haben wir Vitrinen und Aufsteller benutzt, um damit etwas von der Geschichte des Wörterbuchs zu zeigen, vor allem aber den Weg von der althochdeutschen Handschrift über deren Edition zu den Belegzetteln des Materialarchives und von dort zur Entstehung der Wortartikel und schließlich zu deren Druck. Daneben gibt es Hinweise auf eine Vielzahl kleinerer und größerer Veröffentlichungen früherer wie gegenwärtiger Wörterbuchmitarbeiter, gewissermaßen als Beiprodukte der Wörterbucharbeit. – Die folgenden Darstellungen einzelner Wortgruppen durch ihre Bearbeiter werden dann das Bild abrunden.

Ich möchte zunächst allgemein etwas zu unserem Wörterbuch sagen, zu seiner Konzeption, seinem Stellenwert in der Grundlagenforschung, zur althochdeutschen Überlieferung und ihrer zeitlichen und räumlichen Abgrenzung sowie zum Materialkorpus des Wörterbuchs und einer seiner wesentlichen Aufgaben, nicht nur Übersetzungshilfe zu sein, sondern kulturhistorisch relevantes Sachwissen bereitzustellen, ohne jedoch ein Sachlexikon sein zu wollen oder zu können.

Durchaus bedeutende Darstellungen altdeutschen Wortschatzes waren im 18. und 19. Jh. vorausgegangen, als Elias von Steinmeyer 1870 von Zacher, einem der ersten Inhaber des Lehrstuhls für deutsche Philologie, beauftragt wurde, ein ‘Althochdeutsches Wörterbuch’ zu erarbeiten. Steinmeyer faßte den folgenschweren Entschluß, mit der Wörterbucharbeit erst zu beginnen, wenn ein vollständiges, zitierfähiges Textkorpus in wissenschaftlich-kritischen Editionen vorliegt. Das war im Jahr 1922, im Todesjahr von Steinmeyer, geschafft, durch namhafte Philologen wie Sievers, Piper, Kelle, van Helten u.a., vor allem aber von Steinmeyer selbst. Darüberhinaus hatte Steinmeyer eigenhändig ein Zettelarchiv der gesamten althochdeutschen Überlieferung angelegt, aber die Wörterbucharbeit selbst mußte er der nächsten Generation überlassen.

Für dieses in seiner Vollständigkeit einmalige Material entwarfen in den 40iger Jahren Elisabeth Karg-Gasterstädt und Theodor Frings eine umfassende Konzeption: Es sollte nicht ein Hilfsmittel zur Textrezeption oder ein Index von Belegstellen entstehen, sondern ein Kompendium des Wortschatzes mit zitierbaren Belegen einschließlich zugehörigem Latein und einer Vielzahl sowohl sprachhistorischer als auch kulturhistorischer Aussagen, das sowohl der Grundlagenforschung im Rahmen der deutschen und anderer Philologien als auch als Nachschlagewerk für Theologen, Rechtshistoriker und Fachhistoriker verschiedener Sachbereiche dienen soll.

Dahinter steht natürlich noch die Vorstellung Jacob Grimms, der den Zweck seines Deutschen Wörterbuchs darin sah, “den ganzen Schatz der Sprache zu bewahren”, so wie auch Graff sein 6-bändiges Wörterbuch (1842) ‘Althochdeutscher Sprachschatz’ nannte und Wölflin das Archiv für lateinische Lexikographie 1874 bewußt als Vorarbeiten zu einem Thesaurus linguae Latinae bezeichnete und diesen Titel trägt das monumentale Werk der klassischen Philologie noch heute.

So soll das Althochdeutsche Wörterbuch ebenfalls ein ‘Thesaurus’, ein ‘Schatzhaus’ sein, das alle althochdeutschen Wörter und deren Gebrauchsweisen im weitesten Sinne aufbewahrt. Damit ist es eine wichtige Auskunftsquelle, wenn Wörter oder auch syntaktische Konstruktionen der Gegenwartssprache bis zu ihrer ersten schriftlichen Belegung zurückverfolgt werden sollen, oder wenn im Sprachenvergleich festzustellen ist, ob es Wörter und ganze Wortfamilien, die in anderen germanischen Sprachen heute noch geläufig sind, auch einmal im alten Deutsch gegeben hat (z.B. an. hyggja zu ausgestorbenem ahd. hugu ‘Sinn, Verstand’, oder die große altnordische Sippe um kveðja neben ausgestorbenem ahd. quedan, einem Verb des Sagens). Einen unschätzbaren Wert hat das Materialarchiv für den Bereich der ausgestorbenen Wörter als Bewahrer vergangener Kultur und alter Denkweise. Es ist gewissermaßen die letzte Stelle, an der das sprachliche Erbe dieser Frühzeit – unter philologischen Gesichtspunkten geordnet – aufbewahrt wird. Es birgt den Sprachschatz so wie Museen die materiellen Funde dieser Zeit aufbewahren und Bibliotheken alte Handschriften zu ihrem kostbarsten Gut rechnen.

Steinmeyers Materialkorpus von rund 700 000 Belegen, zu dem inzwischen noch durch Nachtragsveröffentlichungen Tausende von Belegen hinzukamen, umfaßt mit etwa 32 000 Stichwörtern (nach Splett) das gesamte althochdeutsche Wortgut, das in Texten und Glossen – also Einzelwortübersetzungen in lateinischen Texten – auf uns gekommen ist, vom Beginn der schriftlichen Überlieferung an, im wesentlichen vom 8.–11. Jh., in späteren Abschriften alter Handschriften von lateinisch-althochdeutschen Glossaren bis ins 12./13. Jh. Die Belege stammen aus allen deutschen Mundarten, vom alemannisch-bayrischen Süden über die verschiedenen Teile des Fränkischen bis hin zum Niederdeutsch-Altsächsischen.

Das 8.–11. Jh. ist der Zeitraum, in dem – wie Theodor Frings in seinem bekannten Akademie-Vortrag formulierte – Antike und Christentum an der Wiege der deutschen Sprache standen bzw. aus dem dieses Wortgut in frühester Schriftlichkeit bis heute überliefert ist. Nicht selten zeigt sich, wie altes germanisches Wortgut zur Bezeichnung der neu vermittelten Vorstellung aus der Antike (septem artes liberales) und dem Christentum wurde, wie sich vor allem abstrakte Begriffe mit neuen Inhalten füllten, aber auch wie die bäuerliche Alltagssprache befähigt wurde, lateinische Begriffe aus Philosophie und Theologie, Geometrie und Musik adäquat wiederzugeben. So kann unser Sprachmaterial soziokulturelle und historische Sachinformationen vermitteln, wenn in den Artikeln versucht wird, etwas von den Vorstellungen und der Lebenswelt der althochdeutschen Schreiber und ihrem Bemühen, diese in treffenden Wörtern zu erfassen, deutlich werden zu lassen.

Die Frühzeit der deutschen Schriftlichkeit liegt also um 800, d.h. in der Blütezeit des Karolingerreiches. Fast alles Geschriebene ist derzeit Latein, eine Sprache, die von Wortschatz und Syntax her in der Lage ist, Probleme aller Wissensbereiche adäquat wiederzugeben, also ‘eine Hochkultur mit Schrifttradition’ wie Haug sie charakterisiert. Daneben steht die deutsche Sprache, natürlich ihrerseits grammatisch, syntaktisch, phraseologisch ausgebildet, aber eben zunächst gesprochene Sprache als Kommunikationsmittel des Alltags – und die Sprache von Dichtung, von der wir aber leider nur wenig wissen, weil sie, bis auf Ausnahmen, wie z.B. Hildebrandslied, Zauber- und Segenssprüche, Muspilli nicht verschriftlicht wurde oder zumindest nicht überliefert ist. Auf Bestreben Karls des Großen sollten um 800 aber nun christliche Gebrauchstexte den Gläubigen, besonders den Geistlichen und Taufpaten, durch volkssprachliche Übersetzungen durchsichtig und verständlich gemacht werden. Aus dieser Zeit stammen erste Paternoster- und Credoübersetzungen, Beicht- und Bekenntnisformeln und christliche Hymnen. Noch im 9. Jh. bemühte sich Otfrid von Weissenburg, sein frenkisc bzw. diutisc gleichwertig neben die angesehene und heilige lateinische Sprache zu setzen. So hat der Schweizer Stefan Sonderegger das Althochdeutsche als ‘Experimentierphase deutsch geformter Schriftlichkeit’ bezeichnet, als schreibsprachliche Verdeutschung von Glaubens- und Wissenschaftsbegriffen unter Ausstrahlung der Volkssprache in die Schriftlichkeit.

Die althochdeutsche Überlieferung reicht von Sprüchen mit einer oder wenigen Zeilen bis hin zu den umfangreichen Werken Notkers von St. Gallen, von der germanischen Stabreimdichtung des Hildebrandsliedes bis zur gelehrten Übersetzung und Interpretation theologischer und philosophischer lateinischer Schriften, von Interlinearversionen und eng an die lateinischen Vorlagen gebundenen christlichen Gebrauchstexte bis zu syntaktisch weithin eigenständiger Textgestaltung in Otfrids Endreimdichtung und Notkers Werken.

Das wesentlichste Merkmal der althochdeutschen Überlieferung ist wohl, daß sie zu einem sehr großen Teil lateinische Vorlagen mehr oder weniger eng übersetzt oder zumindest zur Grundlage hat. Das gilt für die Murbacher Hymnen und die althochdeutsche Benediktinerregel ebenso wie für den althochdeutschen Tatian, eine Evangelienharmonie aus den 4 biblischen Evangelien. Bleibt schließlich noch das Reimepos Otfrids von Weissenburg, vom Inhalt her ebenfalls eine Evangelienharmonie, aber eine freie eigenständige Gestaltung, wenn auch oft an den Bibeltext eng angelehnt. Und schließlich gehört hierher das Monumentalwerk Notkers, des großen St. Galler Klosterlehrers, der eben nicht nur übersetzte, sondern stets eigenständige, deutsche erklärende Passagen einfügte, dem wir viele sprachliche Neubildungen verdanken, der überhaupt wesentlich zur Entwicklung des Deutschen als Sprache der Wissenschaft beitrug. Zum Materialkorpus gehören noch die althochdeutschen Glossen zu lateinischen Glossaren und besonders zu lateinischen Texten (Vulgata, Kirchenväter, christliche Literatur wie Aldhelm und Prudentius), sie decken – nach Splett – etwa zwei Drittel der althochdeutschen Stichwortansätze (27 500) ab.

Wie gestaltet sich das alles nun im Wörterbuch? Auch der für jeden Artikel verbindliche Grundaufbau wird in den Vitrinen an Beispielen demonstriert:
1. Nach dem normalisierten Stichwort ein Vergleich zu anderen germanischen Sprachen.
2. Eine vollständige Erfassung der Belege nach lautlichen und morphologischen Kriterien, also Deklinations- und Konjugationsformen, geordnet.
3. In hierarchischer Gliederung die Bedeutungsangaben, ggf. mit notwendigen Sacherklärungen und vor allem zitierte Belegtexte – einschließlich zugehörigem Latein – die jeweils die Bedeutungsbreite und -vielfalt demonstrieren, aber auch Verwendungsweisen und syntaktische Strukturen deutlich werden lassen.
4. Werden Hinweise zu den belegten Wortbildungstypen und ggf. zu Spezialliteratur gegeben.

Ich möchte mich jetzt dem kulturhistorisch relevanten Wortschatz zuwenden, also den Sachinformationen des Althochdeutschen Wörterbuches, die nicht zuletzt seine interdisziplinäre Bedeutung ausmachen. Fragen wir zunächst nach den Sachgebieten, in denen er uns besonders entgegentritt:

Wörter des Rechts sind es gewesen, die bereits seit dem 18. Jh. – so in den frühen altdeutschen Wörterbüchern das Interesse an der althochdeutschen Überlieferung weckten. Sie stehen auch heute vielfach im Blickpunkt der Forschung (R. Schmidt-Wiegand, H. H. Munske, I. Reiffenstein, St. Sonderegger, R. Schützeichel). Diese Wörter kommen nicht nur in Rechtstexten in engerem Sinne vor, sondern gerade in einer beachtlichen Vielfalt in althochdeutschen literarischen und besonders in Gebrauchstexten und in Glossen: êuua und reht/ eid, tuom, urteili, hantgimahali ‘Handzeichen als Rechtssymbol für rechtlichen Schutz’, Amtsbezeichnungen wie fogat, furisto, fiorfuristo, gouwitehhant.

In den Naturwissenschaften gehören viele von Notkers Umsetzungen der Aristotelischen Begriffe, speziell aus der Geometrie dazu, Bezeichnungen wie z.B. stuph ‘Punkt’, reiz ‘Strich’, fioreggi ‘viereckig’.

Aus der Biologie sind viele Pflanzen- und Tierbezeichnungen zu nennen, deren Bearbeitung oft große Schwierigkeiten bereitet, wenn sich zeigt, daß der althochdeutsche Schreiber nicht immer eindeutige Vorstellungen vom Denotat hatte und man in aller Vorsicht nach dem lateinischen Lemma eine Zuordnung versuchen muß: feluuâri steht für ‘Weide, Pappel, Holunder’, haganbuohha für ‘Hainbuche und Haselnuß’, fledarmûs für ‘Fledermaus und Nachtfalter’.

Ein spezielles Informationsfeld für die Medizingeschichte bilden einmal althochdeutsche Krankheitsnamen, wie z.B. glasougi ‘Grauer Star’, gelosuht “Gelbsucht’ aber auch ‘Lepra’, fuozsuht ‘Gicht’.

Sachbegriffe aus dem religiösen Bereich: aus heidnisch germanischen Kult und Ritus findet sich im althochdeutschen Materialkorpus – bedingt durch die Überlieferungslage – nur relativ wenig. Bezeichnenderweise begegnen Wörter der Sippen galan, gelstar, gougal, gougalôn für das Singen von Zauberliedern und Zauberei in den Glossen vorwiegend zu lat. Bibeltexten, in denen außerjüdisches Geschehen wiedergegeben wird. Sie stehen aber auch – aus christlicher Gegenposition – in den Beichtformeln: ich habe gisundot … in zoubere, in gouggile, in heilsite; ahd. heilisôd kann dagegen einerseits im Zusammenhang mit der römischen Vogelflug- und Eingeweideschau ‘wahrsagen, deuten’ heißen und andererseits für jüdische Weissagungen des Alten Testaments gebraucht werden.

Sachbegriffe aus dem jüdisch-christlichen Bereich sind vorwiegend Bezeichnungen für kultische Gewänder, Tempelausstattung und Opferritus. So: lahhan, umbihang für Wandteppiche der Stiftshütte, êuuarttuomlîhhaz giuuâti für ephod ‘das Schultergewand des Priesters’, flado, fohhinza für die ‘ungesäuerten Brote auf dem Altartisch’ und gioz-, gôzoffar, mit dem man im Tempel von Jerusalem den Altar besprengte.

Auf den abstrakten bzw. ideellen Wortschatz des Christentums und seine Herausbildung wird später im Zusammenhang mit den Lehnwörtern eingegangen.

Bei einer relativ großen Anzahl der Wörter des Alltags ist eine kulturhistorische Erklärung von Gegenständen und Sachverhalten im Wörterbuch unerläßlich, weil sich Arbeitsgeräte und Arbeitstechniken stark verändert haben oder zumindest für den Menschen des 20. Jhs. nicht mehr allgemein bekannt sind. Dazu gehören Maßeinheiten, landwirtschaftliche Geräte, auch Materialien wie harz (für ‘Bitumen, Asphalt’), hirzhorn, glas (‘Bernstein’), mitunter noch für andere Denotate als heute verwendet, filz und blahha für ‘ärmliche Kleidung’, gotauuebbi für ‘kostbaren Stoff’, aber auch Wörter für handwerkliche Tätigkeiten, z.B. der Metallbearbeitung (irheffen und heviîsarn ‘Stichel’) oder der Webtechnik (fizza, hefeld, harluf ‘Kettfaden’).

Bei dieser Auflistung wird bereits deutlich, daß der Verfasser von Wörterbuchartikeln oft mit Begriffen konfrontiert wird, die er zunächst selbst nicht eindeutig zu definieren weiß; wo findet sich da speziell Hilfe?

Zunächst wird man sich in der umfangreichen Literatur umsehen, von hohem Stellenwert sind da die umfassenden kulturhistorischen Werke, die auch die Sachkunde und Belege aus anderen germanischen Sprachen einbeziehen und systematisch aufarbeiten, allen voran Marzells Wörterbuch der Pflanzennamen, das die althochdeutschen Bezeichnungen mit auflistet, sowie Moritz Heynes ‘Hausaltertümer’ und dazu viele neue Einzeluntersuchungen, verstreut in Zeitschriften und Festschriften.

Unsere eigentliche Aufgabe als Grundlagenforschung ist natürlich, erst einmal aus únserem Material und seinem Umfeld alles Relevante herauszuziehen. Zuerst befragt man den althochdeutschen Kontext – soweit vorhanden – und seine lateinische Vorlage, ebenso althochdeutsche Synonyma (flegila vel driscila), die in sog. Doppelglossierungen erscheinen oder verschiedene althochdeutsche Wörter in Glossierungen zur gleichen lateinischen Vorlage, wie eggistein und winkilstein für lat. lapis angularis. In der lateinischen Vorlage gibt es oft auch lateinische Glossierungen oder Kommentare, z.B. einen Kommentar von Servius zu Vergil und eine Fülle lateinischer Glossen zu Prudentius vom Magister Iso von St. Gallen, einem Klosterlehrer des 9. Jhs. und – neuerlich von P. W. Tax umfassend veröffentlicht – lateinische Kommentare zu Boethius’ Consolatio, einem lateinischen Werk, das in mehreren Handschriften althochdeutsche Glossierungen zeigt und vor allem von Notker übersetzt und kommentiert wurde. All das sind in althochdeutscher Zeit in den Klöstern gut bekannte und genutzte Hilfsmittel, und sie verhelfen uns oft zum Verständnis von Text und althochdeutschem Wort. Für uns kommen als Nachschlagewerke noch die großen lateinischen Wörterbücher hinzu, deren reiches Material oft unsere Einzelbelege in der Bedeutung absichert.

Darüber hinaus sind gute Kenntnisse der Bearbeiter im Bereich der germanischen, antiken und jüdischen Kultur notwendig. Wie erklärt man sonst hîfuoga ‘die Heiratsstifterin’ als Bezeichnung für die griechische Göttin Hera oder die Verwendung des aus germanischer Vorstellung stammenden Wortes thingman, das sachkundig hebräisch coheleth übersetzt, ‘den, der in der Volksversammlung das Wort führt’, wo wir gewöhnt sind, das biblische Buch ‘Prediger’ zu nennen, oder ein Beispiel aus dem Altenglischen: Iringes uueg, eine Glosse zu via secta aus Isidors Naturlehre als Bezeichnung der Milchstraße, worin Iring = Rîgr der Name eines germanischen Gottes, des Hüters des himmlischen Weges der Milchstraße ist. – Zumindest muß man als Bearbeiter wissen, wo man sich für solche Dinge jeweils kundig machen kann.

Recht ergiebig für Informationen und oft sicherer zu greifen sind Parallelen der althochdeutschen Wörter in den heutigen Mundarten. – Ein hoher Prozentsatz, der in der Hochsprache nicht mehr vorhandenen althochdeutschen Wörter findet sich noch in Mundarten. Manches althochdeutsche Wort erschließt sich überhaupt nur durch Mundartwörter und deren Erklärungen. Obersächs. bärwinkel hat weder mit Bär noch mit Winkel zu tun, sondern geht auf ahd. berawinka zurück, das aus lat. pervinca, der Bezeichnung der Pflanze ‘Immergrün’ zu lat. vincîre ‘umwinden, schlingen’ entstellt wurde. – Das Rheinische Wörterbuch weist sonst im Althochdeutschen nicht mehr verständliches durpil für ‘Türschwelle’ aus.

Mit obiger Aufzählung sind nur die häufigsten Hilfsmittel genannt. Das Anliegen des Althochdeutschen Wörterbuches ist es, alles Erfahrbare aus dem Materialkorpus herauszulösen und für das Einzelwort möglichst (wie Karg-Gasterstädt formuliert) “die Stelle zu bestimmen ..., an der es im lebendigen Sprachgebrauch seiner Zeit gestanden hat”. Darüber hinaus aber muß das Wörterbuch ggf. Beschreibungen oder Erklärungen von genannten Gegenständen oder Sachverhalten bieten und dabei bereits irgendwo Gesagtes aufspüren, Verbindungen zwischen Einzelaussagen verschiedener Disziplinen herstellen, Allgemeines auf das spezielle althochdeutsche Wort anwenden und schließlich alles für die Bedeutungsfestlegung Nötige und Interessante in knapper handhabbarer Form dem Benutzer zu vermitteln suchen, um damit einige Bausteine zum kulturgeschichtlichen Bild des frühen Mittelalters beizutragen.

Jetzt bei Beginn der Arbeit am V. Band, d.h. im Buchstaben K, häufen sich die Lehnwörter. Das ist nicht verwunderlich, denn die mit c-, dem Pendant zu ahd. k-, anlautende Wortstrecke ist im lateinischen Alphabet die weitaus größte. Gerade aber die Lehnwörter sind für eine kulturgeschichtliche Betrachtung von besonderer Aussagekraft. Man rechnet bei den rund 32000 Stichwörtern des Althochdeutschen mit 550 Lehnwörtern.

Es ist nicht von ungefähr, daß sich im Zusammenhang mit der Erforschung von Siedelbewegungen und kulturmorphologischen Untersuchungen zunächst Mitarbeiter des Althochdeutschen Wörterbuches: sein Mitbegründer Theodor Frings, frühere Mitarbeiter Gertraud Müller, Werner Betz und Helmut Ibach, der Projektleiter und Herausgeber des V. Bandes Gotthard Lerchner (besonders für den niederländisch-nordwestgermanischen Raum) und gute Freunde des Werkes: Ingo Reiffenstein und Stefan Sonderegger immer wieder mit althochdeutschem Lehngut und seinen Wanderwegen befaßten.

Zu diesem Lehngut gehören – nach der sprachlichen Realisierung getrennt – zwei Bereiche:

1. die eben benannten Lehnwörter, entstandenen durch die Nutzung fremdsprachiger Wörter, z.T. mit lautlicher und Flexionsabwandlung und 2. die sog. Lehnprägungen; das sind, vereinfacht gesagt, zum einen Nachbildungen fremdsprachiger Bezeichnungen durch dafür geeignetes einheimisches Wortmaterial und Wortbildungsmuster – die Lehnbildungen, zum anderen die Belegung althergebrachter Wörter ohne formale Veränderungen mit einer neuen oder zusätzlichen Bedeutung nach einem fremden Vorbild – die Lehnbedeutungen. Auf weitere Untergliederung, wie sie Betz und andere vornahmen, will ich hier nicht eingehen, ebenso nicht auf Erwägungen zu unterschiedlichen Entstehungsbedingungen der einzelnen Typen. [Lehnwörter entstehen nach Betz mehr in sprachlichen Grenzgebieten (+ Heer, + Handel), Lehnprägungen vorwiegend in bewußter Zweisprachigkeit in Kloster und Schreibschule, nicht selten als einmaliges sprachliches Experiment.]

Außerdem enthält das frühe Althochdeutsch (Abrogans, Benediktinerregel) eine im Verhältnis große Anzahl von Lehnwörtern, aber bereits im Tatian und bei Otfrid und erst recht bei Notker ändert sich das Mengenverhältnis stark zugunsten der Zahl der Lehnbedeutungen. Im religiösen Wortschatz seiner Psalterbearbeitung wurden 31 Lehnwörter und fast 500 Lehnprägungen, vorwiegend Lehnbedeutungen, gezählt.

Grund für die Übernahme von Lehngut ist in althochdeutscher Zeit im wesentlichen die Übernahme neuer Inhalte, der sog. Sachimport, vielfach von Gegenständen, wie z.B. bei den Lehnwörtern: Mauer, Ziegel, Kalk, Straße, Kelter, Wein und anderen Wörtern der Weinbauterminologie oder Kerbel, dem Küchenkraut, aus lat. caerefolium – fast nicht mehr als zusammengehörig erkennbar. Frings hat sie in seiner ‘Germania Romana’ aufgearbeitet und bei vielen ihre Einfallswege und ihren Gebrauch in den Rheinlanden nachweisen können, es sind vielfach Wörter des Alltags. – Zum anderen sind es Übernahmen von Lebensgewohnheiten und für die althochdeutsche Zeit ganz vorrangig: die Übernahme des Christentums. Hierher gehören Grundbegriffe wie biscof, abbat, priester, kirihha, seganôn für benedicere, predigôn aus predicare. Dazu kommt eine große Anzahl von Lehnbedeutungen, die auf einheimisches Wortgut übertragen werden, wie bei heilag geist/uuîh âtum nach spiritus sanctus, bigiht ‘Bekenntnis/Beichte’, tuom, tuomestag ‘Urteil, Gericht/Jüngstes Gericht’, buozen ‘(aus-)bessern, gutmachen/büßen’.

Fragen wir nun wieder nach der Gestaltung dieser sprachlichen Besonderheiten im Althochdeutschen Wörterbuch: Lehnwörter lassen sich ohne weiteres als solche kennzeichnen: in der sprachvergleichenden Kopfleiste (Artikelposition 1) erscheint dann hinter den germanischen Parallelen die Angabe: aus lat. bzw. mlat. + Angabe der entsprechenden Form. Die lautliche Darstellung im Formenteil (Position 2) sagt ggf. durch Fehlen oder Vorhandensein von Lautverschiebunsgformen im gewissen Maße etwas über das Alter der Entlehnung aus.

Demgegenüber können Lehnbildungen und Lehnbedeutungen nur bedingt als solche im Wörterbuch kenntlich gemacht werden; Lehnbedeutungen etwa, indem bei der Bedeutungsgliederung dann Untergruppierungen mit dem Vermerk: “in christlich-jüdischem Bereich”, “im christlichem Sinne” erscheinen; Lehnbildungen können signalisiert werden durch die mitzitierten lat. Wörter der Vorlage: armherzi für misericordia, infleiscnissa für incarnatio; im Wesentlichen aber muß die Kennzeichnung von Lehnbildungen der Wortbildung oder Einzeluntersuchungen überlassen werden.

Wichtig aber ist die umfassende Darstellung des gesamten Lehnguts im Wörterbuch, denn dadurch wird Material bereitgestellt für kulturhistorische Fragen wie:
– zu welchem Volk bestanden wann und wo besonders enge kulturelle Beziehungen,
– auf welche Sachbereiche erstrecken sie sich vorwiegend,
– wo grenzen sich die Wirkungsbereiche verschiedenartiger Einflüsse ab – also etwa:

  • wo zeigen sich die Auswirkungen der romanisch-germanischen Beziehungen, wo die der angelsächsischen und irischen Mission,
  • bis wohin reichte von Süden her die Einflußsphäre der frühen gotischen Mission
    (got.-obd. tulþs/tuld gegen nördliches und westliches itmâli und das Lehnwort fîra);
    dabei zeigt sich die grundlegende Bedeutung des Lateins als Trägersprache des neuen Gedankenguts.

Denkbar sind auch Fragestellungen: welche Wege nahmen die Wörter dann innerhalb des deutschen Sprachgebietes, oder: wo gab es besonders enge Kontakte zwischen einzelnen Klöstern und Schreibschulen.
Lokale Zuordnungen von althochdeutschen Texten und Glossenhandschriften können z.T. darüber Aufschluß geben.

Leider macht sich gerade hier wieder nachteilig bemerkbar, daß wir in unserem althochdeutsch überlieferten Wortschatz eben nur einen geringen Bruchteil einstiger Fülle erhalten haben.

Vielfältige Möglichkeiten, kulturhistorische Informationen durch die Artikel des Althochdeutsches Wörterbuch zu übermitteln, sollten aufgezeigt werden. Am Schluß möge dazu ein Satz von Elisabeth Karg-Gasterstädt stehen: “Wie deutsche Vorgeschichte aus Grabbeigaben und den Fundamenten alter Wallanlagen das Material zusammentragen muß, aus dem sich der Historiker das Bild von Leben und Geschehen unserer Vorfahren aufbaut, so enthüllt sich auch in unseren Wörtern dem, der zu lesen versteht, ein gut Teil ihres Tuns und Wesens.”

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