Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig
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Dr. Ute Ecker: Wissenschaftliche Koordination
In der Diskussion wurde bereits auf die Aktion "Wörter des Jahres" hingewiesen, die von der „Gesellschaft für deutsche Sprache” seit fast dreißig Jahren regelmäßig arrangiert wird und in der breiten Öffentlichkeit wachsende Aufmerksamkeit erfährt. „Ausgewählt werden vor allem solche Wörter, die den öffentlichen Diskurs des betreffenden Jahres besonders bestimmt haben, die für wichtige Themen stehen oder sonst als charakteristisch erscheinen.” 1999 standen an der Spitze: Millenium, Kosovokrieg, Generation @, Euroland, nachbessern, Doppelpass, Anderkonto („Der Sprachdienst” Jg. 44, 1/00, S. 1–3). An diesen Beispielen wird schon deutlich, dass bei einem solchen Verfahren nicht eigentlich die Wörter, sondern die bezeichneten Sachen, nicht das signifiant, sondern das signifié die Entscheidung bestimmen. Auch für die 20er Jahre hatte es entsprechende Sammlungen gegeben, und zwar, was doch wohl bezeichenend ist, in einem Unterhaltungsmagazin des Ullstein-Verlags, nicht in der Linguistenzunft (H. D. Schlosser, „Der Sprachdienst” Jg. 43, 5/99, S. 185–190). Da finden sich Wörter, die mit den Sachen wieder verschwunden sind: Detektor, Rotorschiff, Rentenmark, Polsterklasse/Holzklasse (in der Bahn); viele haben sich seither fest eingebürgert: Lautsprecher, Zeitlupe, Außenbordmotor, Hörspiel, Psychotherapie, Vitamine, Rohkost, parken, standardisieren, und nicht wenige erscheinen uns als Historismen und als charakteristisch für die 20er Jahre: Bubikopf, Dolchstoßlegende, Völkerbund, Fürstenabfindung, Dadaismus. An diesen Beispielen wird bewußt, was sich zumeist unbemerkt vollzieht: wie sich im Wortschatz „historisch-kulturelles Gedächtnis” bewahrt. Da ist es nicht verwunderlich, dass die Zeitschrift „Sprachdienst” (Jg. 43, 5/99, S. 210–216) eine Artikelreihe begonnen hat, in der „Wörter des Jahrhunderts” vorgestellt werden sollen: Aids, Bikini, Eiserner Vorhang, Gen, Image, Planwirtschaft u.a. So könnte man aus dem Stegreif charakteristische Wörter für die vergangenen Jahrhunderte aufzählen: Witz, Verstand, Empfindsamkeit, Genie usw. für das 18. Jh., Ablaß, Sendbrief, Machtwort, Fundgrube usw. für das 16. Jh., ritter, minne, êre, hövisch usw. für das 12./13. Jh. Die von den Gegenständen bedingte Häufigkeit des Gebrauchs verschafft den Wörtern größere Aufmerksamkeit und höheren Bekanntheitsgrad bis zu allgemeiner Gültigkeit (z.T. nur in sozialen Gruppen und Schichten).
Das ist ein Aspekt des „Gebrauchswertes” von Wörtern, der sehr wohl die Aufmerksamkeit des Sprachhistorikers erfordert.
Mehr Beachtung finden in der Sprachwissenschaft die Wörter, die nicht nur „Leitwörter” einer Epoche, „verbale Leitfossilien”, darstellen, sondern in ihrer Zeit zu „brisanten Wörtern” geworden sind (so der Titel eines umfangreichen „Lexikons zum öffentlichen Sprachgebrauch” mit der kennzeichnenden Angabe des Bereichs: „von Agitation bis Zeitgeist”, Gerhard Strauß, Ulrike Haß, Gisela Harras, Berlin/New York 1989). Im Zusammenhang mit political correctness und dem DDR-typischen Wortschatz wird die Problematik eingehend behandelt und hat Eingang gefunden in die Sprachgeschichtsschreibung (vgl. zuletzt Peter von Polenz: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, Band III: 19. und 20. Jahrhundert, Berlin/New York 1999, S.523–575). Es ist das komplexe Spektrum der Konnotationen, der sozial geprägten Bedingungen für die normengeregelte Verwendung sprachlicher Formen (Bierwisch), der typischen Begleitvorstellungen (Neubert), der indirekten (nicht-denotativen) Zusatzinformationen wertender, stilistischer, emotionaler, expressiver, volitiver Art (Agricola), z.B. Köter ‘Hund’ (denotativ, referentiell), zusätzlich ‘häßlich, verwahrlost’ (pejorativ wertend), ‘Ärgernis erregend’ (negativ emotional). Als Neben- oder Mitbedeutungen, als okkasionelle Bedeutungen (neben den usuellen) sind diese assoziativen Relationen seit Hermann Paul und K. O. Erdmann auch in der traditionellen Wortforschung eingehend behandelt worden und als wesentliche Erscheinung des Bedeutungswandels erfaßt worden. Das Verhältnis von wîp und vrouwe, Mägdlein/Mädchen und Fräulein in der Geschichte der deutschen Sprache von Walthers von der Vogelweide Wîp muoz iemer sîn der wîbe hôhste name bis zu Goethes Gretchen Bin weder Fräulein weder schön ist ein bekanntes Beispiel für diese Prozesse. Die sozialen und kulturellen Grundlagen, die hierbei erklärend hinzugefügt werden müssen, verbinden sich als allgemein bekannter Hintergrund mit solchen Wörtern und Wendungen, die zu „Signalwörtern”, „Fahnenwörtern”, „Losungen” einer historischen Bewegung geworden sind: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, und Solidarität, Frieden, Fortschritt, aber eben auch Volksgemeinschaft, Führer und Gefolgschaft, Blut und Boden.
Bei diesen Schlagwörtern wird mit deren Appellfunktion am deutlichsten sichtbar, dass sie propositionalen Charakter besitzen: Setzt euch ein für…!, Kämpft für…! „Der Kampf spielt sich im Satz, im Text ab – an der ‘propositionalen Front’, wie es in der französischen Analyse de discours heißt –, und nicht als gegenseitiges Vorzeigen von Vokabeln” (K. Bochmann, in: Die Analyse politischer Texte, Leipzig 1981, S. 16). Solche Propositionen im Hypertext können mit einer logischen Grundform |ACCEPT (SOLL (p))| bzw. |ACCEPT (p))| eingeführt werden (R. Conrad in: Zs. f. Phon., Sprachwiss. u. Kommunikationsforschg. Bd. 40, 1987, S. 484 ff.).
Die Vagheit der lexikalischen Bedeutungen, die dem Lexikographen so große Mühe bereitet, ist eine der Voraussetzungen für den „lebensnotwendigen“ Bedeutungswandel. Die Möglichkeiten der okkasionellen Modifikationen erlauben mit Erweiterung der Extension vorhandener Lexeme, oft in metaphorischer oder metonymischer Verwendung, die „Schöpfung von Benennungen für Vorstellungskomplexe, für die noch keine adäquaten Bezeichnungen existieren” (H. Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte, 5. Aufl. 1920, S. 94). So hat die Aufnahme des Christentums im Karolingerreich, besonders für die bäuerlichen althochdeutschen Dialekte, tiefgreifende Nominationsaufgaben gestellt. „Antike und Christentum an der Wiege der deutschen Sprache” (Th. Frings, Grundlegung einer Geschichte der deutschen Sprache, 3. Aufl. 1957, S.58 ff.) mussten sprachlich-geistig erworben werden, und „je geistiger, abstrakter die Vorlage, je schwieriger die sprachkörperliche und sprachgeistige Annäherung” (ebda S. 65). Christliche Grundbegriffe wurden mit Wörtern aus dem sittlich-rechtlichen Bereich erfasst: contritio, confessio, satisfactio > riuwa ‘Reue’, bijiht ‘Bekenntnis, Beichte’, satisfactio ‘Buße’ und Glaube, Liebe, Hoffnung legten vom lateinischen fides, caritas, spes einen weiten Weg zurück über triuwa, minna, gidingi (auch wân, trôst). Es ist als sicher anzunehmen, dass auch bei diesen Entwicklungen nachhaltige Konnotationen wirkten und das „pragmatische Potential” Wertungen implizierte, die sich als ethische Forderungen an die neuen Christenmenschen richteten. Sie könnten als volitive Propositionen gefasst werden, als „Soll-Sätze” wie die Zehn Gebote. Aber auch späterhin verlagern sich christliche Kernbegriffe mit dem Gebrauch der Wörter im Text, so bis zu Luther hin Arbeit, Beruf, Gewissen, Rechtfertigung, fromm.
Das Beispiel Luthers verweist darauf, wie Glaubensinhalte und sittlich-moralische Grundsätze durch Wörter im Text, durch den „Sermon” und vor allem auch durch die Rede Geltung gewinnen. Bei ihm ist auch das rhetorische Momentum bereits eingehend analysiert worden (Birgit Stolt 1964–1984, H. Junghans, SB SAW, Bd. 136, H. 2, 1998). Dies wird für die Gegenwart viel zu wenig beachtet, wenn politisch und gesellschaftlich bedeutende Reden analysiert werden; da stehen die Inhalte im Vordergrund, nicht zu Unrecht, doch nicht nur das Was, sondern auch das Wie des Vorgetragenen ist für die Wirkung mitentscheidend. Die Zahl der germanistischen Sprachwissenschaftler, die sich dieser Aufgabe widmen, ist freilich gering (v. Polenz 1989, Holly 1982–1996, Hopfer 1991–1994).