Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig
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Dr. Ute Ecker: Wissenschaftliche Koordination
Die großen Linien sind gezogen, das Problem vom Kulturwissen in historischen Bedeutungswörterbüchern ist von Herrn Prof. Reichmann in früheren Aufsätzen und jetzt im Vortrag umrissen. Das Althochdeutsche Wörterbuch (Ahd. Wb.) ist eben auch nur eines dieser historischen Wörterbücher. Was bleibt hinzuzufügen? So will ich denn versuchen, gewisse Spezifika des Ahd. Wb.s herauszustellen und werde gewissermaßen aus der Werkstatt des Ahd. Wb.s berichten.
Das Ahd. Wb., das vom Jubilar betreut und herausgegeben wird, basiert auf der Materialsammlung von E. v. Steinmeyer und umfaßt mit seinen über 700.000 Materialzetteln jeden Beleg, der aus dem abgesteckten Zeitraum des 8.–11. Jh.s in althochdeutschen Texten oder als althochdeutsche Einzelwörter, sog. Glossen, zu lateinischen Texten überliefert ist. Aus diesem in seiner Vollständigkeit einmaligen Material sollte nach der Konzeption von Elisabeth Karg-Gasterstädt und Theodor Frings nicht eine Übersetzungshilfe oder ein Index von Belegstellen entstehen, sondern ein Kompendium mit zitierbaren Belegen einschließlich zugehörigem Latein und einer Vielzahl sowohl sprachhistorischer als auch kulturhistorischer Aussagen, das sowohl der Grundlagenforschung im Rahmen der deutschen und anderer Philologien als auch als Nachschlagewerk für Theologen, Rechtshistoriker und Fachhistoriker verschiedener Sachbereiche und weiterer mediävistischer Disziplinen dienen soll.
Das 8.–11. Jh. ist der Zeitraum, in dem – wie Theodor Frings in seinem bekannten Aufsatz formulierte – Antike und Christentum an der Wiege der deutschen Sprache standen bzw. aus dem dieses Wortgut in frühester Schriftlichkeit bis heute überliefert ist. Nicht selten zeigt sich, wie altes germanisches Wortgut zur Bezeichnung der neu vermittelten Vorstellungen aus der Antike – im Bereich der septem artes liberales – und dem Christentum wurde, wie sich vor allem abstrakte Begriffe mit neuen Inhalten füllten, aber auch wie die bäuerliche Alltagssprache befähigt wurde, lateinische Begriffe aus Philosophie und Theologie, Geometrie und Musik adäquat wiederzugeben. Das Belegmaterial gibt damit Aufschluß sowohl über die Aneignung und Bewältigung der lateinisch-römischen Kultur und der Grundvorstellungen des Christentums einschließlich der Spuren der irischen und angelsächsischen Mission als auch über den Sachwortschatz des Alltags. So kann unser Sprachmaterial soziokulturelle und historische Sachinformationen vermitteln, wenn in den Artikeln versucht wird, etwas von den Vorstellungen und der Lebenswelt der althochdeutsche Schreiber und ihrem Bemühen, diese in adäquaten Wörtern zu erfassen, deutlich werden zu lassen. Dabei ergibt sich die Doppelproblematik: Wie kommt man zu den Sachinformationen und wie stellt man sie gut im Wörterbuch dar? Kenntnisse über die verschiedenen Lebens- und Wissensbereiche der Epoche und die Erfassung von Parallelen in anderen germanischen Sprachen bzw. Kulturkreisen helfen, das althochdeutsche Material zu verstehen und den Beleg und sein Kontextumfeld in einer zielgerichteten Erwartungshaltung mit richtigen Fragestellungen anzugehen. Erschwerend kommt für das Althochdeutsche hinzu, daß die Orientierung am Sprachgebrauch vorherliegender Stufen entfällt und daß die althochdeutsche Überlieferung nur in geringem Umfang als eigenst&aum;ndig zu betrachten ist, meist aber der Blick mit auf lateinische Vorlagen, im engeren oder weiteren Sinne, zu richten ist. Eine gravierende Einschränkung erfährt die Sachdarstellung noch durch eine weitere Besonderheit des althochdeutschen Wortschatzes: Trotz aller Vollständigkeit der Verzettelung des Überlieferten liegen uns nur recht bruchstückhaft Ausschnitte aus dem frühmittelalterlichen Sprachleben mit unvollständiger Belegung der damals vorhandenen Wörter und Bedeutungen vor. Ein zielgerichtetes Nachexzerpieren oder Befragen der Sprecher wie bei anderen Wörterbüchern ist für das Althochdeutsche eben nicht möglich.
Drei Fragen sollen nun an das Ahd. Wb. gestellt und an ausgewählten
Beispielen beantwortet werden.
I. Woher stammen die im Wörterbuch gegebenen Sachinformationen?
II. Welchen Sachbereichen gehören die kulturhistorisch relevanten Wörter
an?
III. Wann und wie erscheinen kulturhistorische Informationen im Ahd. Wb.?
I. Woher stammen die Sachinformationen?
1. Zum Aufbau eines eigenen Sachverständnisses denkt man wohl zuerst
an nichtsprachliche Quellen, an erhaltene Gegenstände des 8.–11. Jh.s und gegebenenfalls an Abbildungen
derselben in alten Handschriften. Das nicht übermäßig reich vorhandene Material ist bereits in
größerem Rahmen in Kulturgeschichten und Spezialabhandlungen aufgearbeitet, die so eine gute
Informationsquelle für die Realien bieten. Viele Äußerungen römischer Schriftsteller
(Plinius, Orosius, Tacitus) über die Germanen sowie wesentliche Bemerkungen aus dem lateinisch verfaßten
zeitgenössischen Klosterschriftgut sind dort einbezogen.
2. Um den speziellen Vorstellungen der althochdeutschen Autoren und Übersetzer nachzuspüren, richtet sich der Blick auf innersprachliche Quellen, so etwa auf die entsprechenden Wörter in den anderen germanischen Sprachen etwa gleicher Zeitstufen. Daß sich die sprachlichen Parallelen vorrangig im Altenglischen und Mittelniederdeutschen finden, ist wohl in der Entstehungsgeschichte der deutschen Schriftlichkeit begründet. Speziell für die althochdeutsche Überlieferung hat außerdem das Latein der Vorlagentexte eine große Relevanz. Wo diese nicht weiterhelfen, werden vielfach alte Glossare herangezogen, die auf spätantike Lexikographen oder auf Scholien zurückgreifen, wie sie sich im Corpus glossariorum Latinorum Band I–V finden: griech.-lat. oder lat.-lat. Glossare, die seltenes lateinisches Wortgut mit geläufigeren Wörtern erklären. Sie ermöglichen einen Zugang zu weiterer Recherche. Ebenso informieren alte lateinische Kommentare zu speziellen Texten, wie etwa der Kommentar des Servius zu Vergil, der nachweislich im 7. und 8. Jahrhundert oft benutzt wurde, und die lateinischen Glossen des Magisters Iso in St. Gallen im 9. Jh. zu Prudentius über Sichtweise und Verständnis zeitgenössischer Interpretationen.
3. Gegebenenfalls lassen sich auch – in aller Vorsicht – Informationen aus der Etymologie bzw. der Benennungsmotivik des Wortes schöpfen: Etwa bei ahd. vintûsa dem ‘Schröpfkopf’, aus mlat. cucurbita ventosa für ein blutaufsaugendes Gefäß, wo – wie relativ häufig – mit der Sache die Bezeichnung übernommen wurde. Hierher gehört auch die Ermittlung von Lehnwörtern, ihrer Entstehung im kulturgeschichtlichen Zusammenhang und ihrer Bedeutung in der Ausgangssprache.
4. Weit ergiebiger und oft sicherer zu greifen sind Parallelen der althochdeutschen Wörter in den heutigen Mundarten. Manches althochdeutsche Wort erschließt sich überhaupt nur durch Mundartwörter und deren Erklärung in Mundartwörterbüchern oder in auf Mundartwortschatz beruhenden kulturhistorischen Darstellungen. Ahd. blunkazzen bedeutet offenbar wie schweiz. plunzen ‘stammeln, lallen’, und wie in mehreren oberdeutschen Mundarten ahd. grecko den ‘eingetrockneten Augenschleim’ und brieggo ‘Verzerrung des Gesichts, Grimasse’. Neben vielen obd. Beispielen ist auch ein im Obersächsischen belegtes Wort zu nennen: ‘Bärwinkel’ zu ahd. berawinka aus lat. pervinca ‘Immergrün’ zu vincire ‘umwinden, schlingen’ oder rhein. durpil ‘Türschwelle’. Manchmal lassen sich hinter den Mundartformen abgewandelte Formen ehemals lateinischer Lehnwörter, die nicht mehr verstanden wurden, ausmachen, wie bei altê(e) zu lat. althaea ‘Eibisch’, gebita ‘Gefäß, Schale’ zu gabata, bereits im Lateinischen ein Lehnwort. Hier kommt zu der Bedeutungsangabe aus der Mundart noch die Recherchemöglichkeit im Latein hinzu. Viele weitere Beispiele ließen sich beibringen. Wegen der Herstellung solcher Bezüge zwischen althochdeutschem Wort und den Mundarten wird das Ahd. Wb. dann auch relativ oft als Hilfe zur Bedeutungserschließung zitiert, so etwa in J. Spletts Ahd. Wb. der Wortfamilien, besonders bei den Einzeleinträgen, und in Marzells Wörterbuch der Pflanzennamen.
5. Fragt man schließlich nach den Bedeutungs- bzw. Sachinformationen, die die althochdeutschen Belege selbst im Umfeld ihrer Überlieferung hergeben, so ergibt sich ein sehr vielfältiges Bild. Synonyma, die sich in ihrer Bedeutung gegenseitig erhellen, fallen zuerst ins Auge. In der Glossenüberlieferung stehen relativ häufig zwei althochdeutsche Wörter, oft durch lat. vel ‘oder’ verbunden, nebeneinander so flegila vel driscilun für tribulus, first vel obanenti für culmen oder die Parallelhandschriften haben verschiedene Übersetzungen für das lateinische Wort der Vorlage, z.B. uuinkilstein bzw. eggistein für angularis lapis quod duos parietes in unum coniungat – gleich noch mit einer Definition im Lateinischen. In zusammenhängenden althochdeutschen Texten finden sich die Synonyma bekanntlich in Paarwörtern oder Doppelformeln.
Dieses Nebeneinander mag eine erste Hilfe auch für eine kulturgeschichtliche Einordnung sein, doch man tut gut daran, solche konjunktionalen Verbindungen nicht als identisch zu verstehen, sondern als „in einem Wortfeld benachbarte Lexeme”, so Heinrich Beck bei seiner Differenzierung von ahd. hugu und muot, die beide auf den ersten Blick etwa ‘Sinn, Verstand, Geist’ bedeuten. Ähnliche Problematik zeigen ahd. êuua und uuizzôd, beide als Rechts- und Sakralwort für ‘Gesetz’ verwendet.
Da für das Ahd., wie bereits erwähnt, das Latein eine so große Rolle spielt, ist zu erwarten, daß das jeweilige lateinische Lemma Hilfe zur Bedeutungsaufklärung bietet. Doch wird diese oft durch die Polysemie des lateinischen Wortes vereitelt. Lateinisch vena wird althochdeutsch mit ida, aber auch mit âdra wiedergegeben. Karg-Gasterstädt hat in einem ihrer frühen Aufsätze zur Etymologie von ida herausgearbeitet, daß âdra vena – neben anderen lateinischen Lemmata – übersetzt, wenn ein Körperorgan: die Ader für das Blut oder die Eingeweide gemeint sind. ida dagegen wird verwendet, wenn vena etwas Umhülltes: eine Wasser- oder Erzader meint. Genaues Hinschauen wird manchmal mit nicht uninteressanten Feststellungen belohnt, die einen kleinen Blick in die Denkweise oder in kulturelle Bezüge unserer ‘Altvorderen’ gewähren.
Weitere Wortpaarungen wie die Adjektive heilag und uuîh für lat. sanctus, die Substantive holz, uuald, forst und harug, die Verben eigan und habên, beide für nhd. ‘haben’, oder sprehhan, sagên, jehan für ‘reden’ lassen die Frage nach dem kulturhistorischen Zugriff über das onomasiologische Feld aufkommen, dieser war jedoch für die Konzeption des Ahd. Wb.s nicht vorgesehen.
Präziser als über deutsche oder auch lateinische – zumindest partielle – Synonyma, also Einzelwörter, läßt sich die Bedeutung gerade bei kulturgeschichtlich relevanten Wörtern über Definitionen oder wenigstens Umschreibungen oder auch längere Erläuterungen innerhalb des Textkorpus ermitteln, doch diese findet man relativ selten, am ehesten in Notkers Werken und in Sachglossaren spätalthochdeutscher Zeit, besonders in dem bekannten Summarium Heinrici: huofîsan urina i. e. ferrum quod in pedibus equi percutitur; kappo gallinacius (gallus) qui est castratus; stamph pila, vas quo annona purgatur antequam molatur. Ein anderer Glossator hat ahd. blahha als armaro uuihto uuad erklärt. Es versteht sich von selbst, daß solche Glücksfälle natürlich auch dem Benutzer an die Hand gegeben werden. – Über die Darstellungsmöglichkeiten im Wörterbuch wird später zu sprechen sein. – Dennoch ist die Ermittlung von Sachwissen aus dem Material selbst heraus meist schwierig und eigentlich immer an umfängliches Vorwissen und breite Nachforschung gebunden, um nicht Irrtürmern zu unterliegen.
Dazu kommt, daß wirklich neue faktologische Erkenntnisse und Rückschlüsse auf die Lebenswelt der Sprecher aus dem althochdeutschen Material – zum Leidwesen des Bearbeiters – relativ gering sind oder periphere Angaben betreffen. Nach rund 150 Jahren Erforschung altdeutschen Kulturgutes unter verschiedensten Gesichtspunkten und kulturhistorischer Wortforschung ist das nicht verwunderlich und mag für andere historische Wörterbücher nicht viel anders sein.
Das Anliegen des Ahd. Wb.s ist es, alles Erfahrbare aus dem Materialkorpus herauszulösen und für das Einzelwort möglichst (wie Karg-Gasterstädt formuliert) ‘die Stelle zu bestimmen …, an der es im lebendigen Sprachgebrauch seiner Zeit gestanden hat’. Darüberhinaus aber muß es ggf. Beschreibungen oder Erklärungen von genannten Gegenständen oder Sachverhalten bieten und dazu bereits irgendwo Gesagtes aufspüren, Verbindungen zwischen Einzelaussagen verschiedener Disziplinen herstellen, Allgemeines auf das spezielle althochdeutsche Wort anwenden und schließlich alles für die Bedeutungsfestlegung Nötige und Interessante in knapper, handhabbarer Form dem Benutzer zu vermitteln suchen, um damit einige Bausteine zum kulturgeschichtlichen Bild über das frühe Mittelalter beizutragen.
II. Aus welchen Sachbereichen stammen die kulturhistorisch relevanten Wörter?
In aller Kürze soll die interdisziplinäre Bedeutung der Sachinformationen
des Ahd. Wb.s in einer Auflistung der kulturhistorisch relevanten Hauptbereiche aufgezeigt werden:
1. Wörter des Rechts sind es gewesen, die bereits seit dem 18. Jh. – so in den frühen altdeutschen Wörterbüchern von Schilter und Scherz – das Interesse an der althochdeutsche Überlieferung weckten. Sie stehen auch heute vielfach im Blickpunkt der Forschung (R. Schmidt-Wiegand, H. H. Munske, R. Schützeichel, St. Sonderegger, I. Reiffenstein). Diese Wörter kommen nicht nur in Rechtstexten im engeren Sinn vor, [das Wortgut aus diesen ist zunächst im Ahd. Wb. nicht aufgearbeitet], sondern gerade in einer beachtlichen Vielfalt in den althochdeutschen literarischen Denkmälern, besonders in kirchlichen Gebrauchstexten und auch als Glossen. Es seien nur einige Wörter genannt, die zumindest in einem Teil ihrer Bedeutung hierher gehören: êuua und reht für lex, eid, tuom und urteili, hûssuohha ‘die rechtlich erlaubte Haussuchung’, hantgimahali ‘Handzeichen als Rechtssymbol für rechtlichen Schutz’, Amtsbezeichnungen wie frô ‘der Herr’ mit etlichen Komposita (heute noch z.B. in ‘Frondienst’, ‘Fronleichnam’), furisto, hêriro, fogat und fiordeling und fiorfuristo.
2. In den Bereich der Naturwissenschaften gehören Notkers Umsetzungen der Aristotelischen Begriffe, vorwiegend aus dem sog. ‘Organon’, Bezeichnungen speziell aus der Geometrie und Musik, wie z.B. stuph, reiz, fioreggi (Punkt, Strich, viereckig). Aus der Biologie sind viele Pflanzen- und Tierbezeichnungen zu nennen, deren Bearbeitung oft große Schwierigkeiten bereitet, wenn in aller Vorsicht Zuordnungen nach dem lateinischen Lemma versucht werden müssen, wobei z.B. für feluuâri ‘Weide, Pappel, Holunder’ in Frage kommen, für eih ‘Eiche’ auch ‘Terebinthe’, für haganbuohha ‘Hainbuche und Haselnuß’ und für fledarmûs sowohl ‘Fledermaus’ wie ‘Nachtfalter’. Liegen hier nun Verwechslungen oder ganz andere Benennungsmotive zugrunde? Ahd. erdlîm für ‘Pech’ und erdfiur für ‘Schwefel’ sind wegen ihrer Benennungsmotivik ebenso interessant.
Ein spezielles Informationsfeld für die Medizingeschichte bilden einmal die althhochdeutschen Krankheitsbezeichnungen wie z.B. glasougi für den ‘Grauen Star’, gelosuht für ‘Gelbsucht’, aber auch für ‘Lepra’ (wegen der Hautverfärbung), grintlûs für ‘durch Läuse hervorgerufenen Grind’, fuozsuht für ‘Gicht’, ûzsuht für den ‘Durchfall’. Auch Heilmittel gehören in diesen Bereich wie fâsca und gruone salbe als Pflaster oder Breiumschläge.
3. Im Bereich von Theologie bzw. Religion sind die Bedeutungen von
Fachwortschatz festzustellen. In Exodus 25 ff., wo die Stiftshütte und Aarons Priestergewand beschrieben werden,
finden sich besonders viele deutsche Glossaturen: z.B. lahhan, uuantlahhan, umbihang für cortina
‘die als Wand aufgehängten Teppiche’, êuuarttuomlîhhaz giuuâti für ephod
‘ein Gewand des Priesters’ und flado u. fohhenza für lagana ‘die ungesäuerten
Kuchen für den Altartisch’. Auch Wortschatz zu jüdischen Riten wird glossiert, z.B. gioz- oder
gôzoffar für ein Opfer in Form von Öl oder Wein, das ins Feuer gegossen und dessen Rest rings um
den Altar versprengt wurde. Häufiger aber ist, daß allgemeiner althochdeutscher Wortschatz im Zusammenhang mit
christlichen, jüdischen, auch antiken Wertevorstellungen und der Gottesverehrung Sonderbedeutung annimmt oder spezielle
Verwendungsweisen zeigt.
Aus heidnisch-germanischem Kult und Ritus finden sich, wohl bedingt durch die
bruchstückhaft einseitige Überlieferung, nur wenige Spuren.
4. Bei einer relativ großen Anzahl der Wörter des Alltags ist eine kulturhistorische Erklärung von Gegenständen und Sachverhalten unerläßlich, weil sich Arbeitsgeräte und Arbeitstechniken stark verändert haben oder zumindest für den Menschen des 20. Jh.s nicht mehr allgemein bekannt sind. Wer nicht weiß, daß man die Spitzen von Holzpfählen durch Erhitzen im Feuer haltbar machte, wird den Beleg giherstite steckun ‘geröstete, d. h. im Feuer erhitzte Stangen’ für praeacutas bzw. praeustas sudes nicht verstehen. Zu dem Alltagswortschatz gehören etwa Maßeinheiten, landwirtschaftliche Geräte, wie geiza und phluogeshoubit als Teile des Pfluges, dûga die ‘Faßdaube’, allerlei Gefäße, benannt nach Form oder Verwendungszweck oder verschieden in den einzelnen deutschen Siedelgebieten. Auch für Materialien finden sich althochdeutsche Wörter wie harz, hirzhorn, glas, im 8.–11. Jh. mitunter noch für andere Denotate als heute verwendet: harz z.B. sowohl für den ‘klebrigen Saft als Ausfluß verschiedener Baumarten’ als auch für ‘Erdpech, Asphalt’ (lat. bitumen). Stoffe werden differenziert bezeichnet: filz und blahha für ‘ärmliche Kleidung, grobes Wollzeug’, gotauuebbi, eigentlich ‘das von Gott Gewebte’ als Lehnübersetzung von griechisch qeoufantoV – man beachte die Benennungsmotivik – für feinen, kostbaren Stoff, Batist, Damast, Seidenstoff (nach den unterschiedlichen lateinischen Lemmata). Wörter für handwerkliche Tätigkeiten gehören hierher, z.B. aus der Holz- und Metallbearbeitung oder aus der Webtechnik, oft schwer zu bestimmen und zu differenzieren, so fizza ‘Garnfaden zum Abteilen einer Anzahl von Fäden eines Gebindes beim Weben’, hefeld, ein aus dem Altenglischen herübergebrachtes Wort, für den ‘Kettfaden’ (Gegenstand eines Aufsatzes von Grinda), ebenso wie harluf. Hier ist in den Wörterbuchartikeln oft ein Hinweis auf Sekundärliteratur zu Etymologie und Sachbeschreibung gegeben.
III. Wann und wie erscheint eine kulturhistorische Information im Althochdeutschen
Wörterbuch?
1. Ein Sachlexikon wählt häufig die Form einer Definition und kann mit
genus proximum und differentia specifica eine solide Zuordnung und Systematisierung bieten. Ein historisches
Bedeutungswörterbuch, auch wenn es keinesfalls als bloße Übersetzungshilfe verstanden werden will, geht aber
doch zunächst vom Übersetzungsvorgang aus und benutzt für seine Bedeutungsangaben vorrangig neuhochdeutsche
Wörter, die möglichst weitgehend als Synonyme des Althochdeutschen verstanden werden sollen. Doch sehr
häufig sind – eben aus kulturhistorischen Gründen – einschränkende und aufmerksam machende
Anmerkungen nötig, denn ahd. Wörter wie garto, hûs, hof, himil und natürlich erst recht
Abstrakta bedeuten eben nicht uneingeschränkt dasselbe wie das neuhochdeutsche Wort, selbst dann nicht, wenn der
Wortkörper der gleiche geblieben ist.
Wenn für flôti nhd. ‘Floß’ angegeben wird, erübrigt sich eine Erklärung, etwa ‘Wasserfahrzeug aus zusammengebundenen Stämmen’ (zumindest für den heutigen Benutzer, bis vielleicht einmal mit der Sache auch die Kenntnis dieser Benennung verschwindet).
Eine feste Vorgabe für den Artikelbearbeiter, wann er solche Erklärungen hinzufügt, ob er sich den Benutzer als kulturgeschichtlich versiert und mit guter Allgemeinbildung in allen Fachbereichen vorstellt oder ob er lieber für den Fachfremden Verständnishilfen bietet, gibt es nicht. Der Bearbeiter hat zu entscheiden, ob er bei Lehnwörtern wie humerâl nur Humerale ansetzt oder wenigstens als gewisse Orientierung Priester- bzw. Meßgewand hinzufügt. Ahd. garotag – gebildet zu ahd. garauuen ‘bereit-, fertigmachen’ – ist der ‘Rüsttag’ in Luthers Bibelübersetzung. Sollte man es mit dieser Übersetzungsangabe in einem Großwörterbuch genügen lassen? Der Straßburger Druck des Neuen Testaments von 1523 hilft bei diesem Wort seinem Leser durch die Erklärung ‘das ist der bereittag’. Dem Wörterbuchbenutzer des 20. Jh.s, dem Luthers Deutsch nicht mehr unbedingt im Ohr ist, ist die erweiterte Angabe: ‘Rüsttag der Juden, der Tag vor dem Sabbat’ vielleicht eine ebensolche Hilfe als nähere Bestimmung des Gemeinten unter Zuordnung zu einem bestimmten Kulturkreis. Setzt man für ahd. hûsuuurz nur die entsprechende neuhochdeutsch übliche Pflanzenbezeichnung ‘Haus-, Dachwurz‘, schiebt man die Erklärung der Bezeichnung – mit einer gewissen Berechtigung – auf das Neuhochdeutsche weiter. Ahd. (mhd.) donerwurz aber für die gleiche Pflanze bedarf wohl der kurzen Erläuterung, daß man sie im Mittelalter oft auf Dächer pflanzte, weil sie nach dem Volksglauben vor Blitzschlag schützt, so berichtet es Albertus Magnus im 13. Jh. In solchen knappen erläuternden Zusätzen zum Übersetzungswort liegt eine erste Möglichkeit der Übermittlung kulturhistorischen Wissens im Wörterbuch.
2. In einer weiteren Gruppe von althochdeutschen Wörtern findet sich gar keine umfassende neuhochdeutsche Entsprechung. Hier bleibt nur die Möglichkeit der Beschreibung, im Ausnahmefall die einer regelrechten Definition. Einige Beispiele sollen verschiedene Möglichkeiten demonstrieren und dabei einige Probleme aufzeigen: Bei finka für lat. fico ist angesetzt ‘grober Schuh, aus Wolle, Filz, Leinen hergestellt, wie ihn besonders Mönche und Bauern trugen’. Die reiche Belegung dieses althochdeutschen Wortes in den heutigen Mundarten und ein mittellateinisches Wörterbuch verhalfen dem Bearbeiter zu dieser Formulierung. Ähnlich gelagert ist die Angabe bei âsine für lat. catasta, einem ‘Gerüst, Gestell aus Holz oder Eisen, wahrscheinlich ein Schand- oder Marterinstrument’, sonst auch mit ahd. hurt ‘Flechtwerk, Rost’ wiedergegeben. Das Vorhandensein des Wortes in obd. Mundarten gibt hier eine gewisse Sicherheit, dazu eine lateinische Glossierung von catasta als genus poenae aculeo simile an einer anderen Stelle des Archivmaterials. An der Wörterbuchansetzung fällt das ‘oder’ und die Fortsetzung ‘wahrscheinlich …’ auf. Der Bearbeiter muß Unsicherheiten unbedingt auch als solche kennzeichnen, denn es liegt in seiner Verantwortung, darauf zu achten, daß in einem Wörterbuch, das Grundlagenforschung liefert, nicht Unsicheres oder gar Fragwürdiges festgeschrieben wird und so die Gefahr einer Übernahme von Falschem in andere Forschungszusammenhänge in hohem Maße gegeben wäre. Das ist auch der Grund für manche ausführliche Angabe, etwa bei flegil, das für lateinisch tribula steht – nach der Definition von Isidor von Sevilla in seinen Etymologien ein genus vehiculi unde teruntur frumenta. Ahd. flegil ist nur in Glossen überliefert. In dem einen der beiden Kontextbelege wird die tribula ‘der Dreschwagen’ zweckentfremdet verwendet, um aus der Stadt fliehende Feinde niederzuwalzen; und der zweite Beleg steht in Vergils Georgicon auf der Grenze zwischen fahrbaren und mit der Hand benutzten landwirtschaftlichen Geräten. Die anderen – kontextlosen – Glossen geben keine weiteren Anhaltspunkte. Da flegil wohl aber letztendlich aus lateinisch flagellum abzuleiten ist, ist eher anzunehmen, daß der Glossator bei seiner Wortwahl das von ihm gekannte, übliche, nicht fahrbare Dreschgerät vor Augen hatte, nämlich den Dreschflegel. Zu solchen Erwägungen im Wörterbuchartikel kommt dann gegebenenfalls die Wertung der Angaben in anderen Glossaren oder Wörterbüchern, in diesem Falle im Althochdeutschen Glossenwörterbuch, das ‘Dreschwagen-, maschine’ wohl vom lateinischen Lemma ausgehend ansetzt.
Ähnliche Fragen wirft der Artikel galizenstein auf. Ahd. galizenstein übersetzt lat. vitriolum (bzw. alumen). Das Ahd. Wb. fügt der Bedeutungsangabe ‘Kupfervitriol’ hinzu, daß es als Heilmittel verwendet wurde. Eine Vielfalt von Sachinformationen läßt sich dazu zusammenstellen, über Herkunft, Verbreitung, Verwendungszweck, Aussehen des gemeinten Gegenstandes und das Vorkommen des Wortes in einem Pflanzennamen, evtl. mit einer Umdeutung. Die wesentlichste Information ist aus der Etymologie zu entnehmen, die wohl auf Galizien deutet: Kupfervitriol wurde also aus Spanien, genauer aus Galizien importiert, und zwar bis in niederdeutsches Gebiet – einer der Hinweise auf Handelswege und Handelsgüter! – Doch das alles muß ungesagt bleiben. Der Bearbeiter eines Bedeutungswörterbuches darf seinen Artikel nicht mit seinem erworbenen Sachwissen überfrachten. Mit diesen Überlegungen sind wir am Grenzbereich zwischen Bedeutungswörterbuch und Sachlexikon.
3. Kulturgeschichtlich relevant sind nicht nur bestimmte althochdeutsche Wörter als Ganzes – wie es nach dem bisher Gesagten scheinen könnte, sondern auch einzelne Bedeutungen eines polysemen Wortes. Hier wird dann das gesamte semasiologische Feld gewissermaßen mit zur Deutung und Interpretation des spezifischen Gebrauchs herangezogen: Sowohl das in den germanischen Einzelsprachen gut belegte hemidi als auch das aus dem Latein entlehnte alba bezeichnen allgemein benutzte Kleidungsstücke. Daneben werden beide Wörter aber auch für ein Priestergewand – entsprechend unterschiedlicher lateinischer Lemmata – sowohl für das ‘Ephod’ des jüdischen Priesters als auch die ‘Albe’, das weiße ‘Chorhemd’ verwendet.
Das häufig belegte althochdeutsche Verb festinôn bedeutet in vielen Belegen ‘etw. feste Gestalt annehmen lassen/ etw. befestigen, mit Schutzwehr umgeben/ etw. auf etw. befestigen’ aber auch – in rechtssprachlichem Gebrauch – ‘etw. mit Worten festmachen, durch einen Eid bekräftigen’. Daneben findet sich in Notkers philosophischen Werken noch die spezielle Bedeutung ‘(durch das Verbinden gegebener Voraussetzungen oder Erkenntnisse in der Logik) etw. schließen, schlußfolgern’. Bei dem abgeleiteten nomen actionis festinunga zeigt sich das Verhältnis noch deutlicher: Neben wenigen Belegen für ‘Stärkung, Bekräftigung, Stütze’ steht eine Fülle von Belegen, wo festinunga zum Terminus technikus der Logik: für affirmatio die ‘Bejahung, Setzung eines Satzes, eines Urteils’ wird und so wie seine lateinische Vorlage im Gegensatz zu negatio, der Verneinung bzw. Aufhebung eines Urteils, steht. So verwendet es Notker in seinen Syllogismen – eine textsortenspezifische Sonderbedeutung, könnte man sagen. Diese Textsortenspezifik herauszuarbeiten gehört mit zu den Erfordernissen bei der Gestaltung der Gliederung des semasiologischen Feldes eines althochdeutschen Wortes.
4. Zu den Bedeutungsinformationen aus dem althochdeutschen Text heraus gehören auch die Kollokationen. Werden diese im Artikel benannt oder in den zitierten Belegen hervorgehoben, können sie dem Benutzer einen Hinweis zum Abstecken des Bedeutungsfeldes geben. Bei Farbadjektiven sind solche Zusätze meist sogar für die eindeutige Bedeutungsangabe notwendig. Es gibt im Althochdeutschen eine Vielzahl von Farb- und Farbschattierungsangaben, aber selbst die gängigen Grundfarben differieren mit unseren heutigen Vorstellungen. Der wäre schlecht beraten, der gruoni einfach mit ‘grün’ und blâ mit ‘blau’ wiedergäbe, ganz abgesehen von der Unsicherheit bei Wörtern, die kein neuhochdeutsches Äquivalent mehr haben. Ahd. gruoni ist zunächst die Farbe der wachsenden, gedeihenden Pflanzen (gruoni ist verwandt mit grûên ‘wachsen’, es übersetzt lat. viridis in gleicher Bedeutung). Der vorsichtigen, aus der Prüfung der vielfältigen Belege geborenen Formulierung des Wörterbuchartikels bei nichtpflanzlichen Gegenständen ‘in vielen Schattierungen über blaugrün, (violett-)blau bis zu dunkelgrün, blaugrau’ stehen die Angaben der Bezugswörter zur Seite, nämlich Edelsteine (Smaragd, Jaspis und Heliotrop) oder das Wasser oder häufig der Specht, daneben schon als Kompositum gruonspeht belegt. ‘Dunkel, unauffällig blaugrau’ aber mag gruoni in der Prudentius-Stelle bedeuten, wo es um ein Bußgewand geht und wo das lateinische Lemma glaucus in einer anderen Hs. mit blâfaro wiedergegeben wird. Das Adjektiv blâo sowie blâfaro seinerseits scheint wenig mit unserem strahlenden Blau zu tun zu haben, sondern ‘dunkelblau, blauschwarz, -grau, bleiern’ zu meinen, für den wolkenverhangenen oder nebligen Himmel, für dunkle Flecken der Sonne, für die Nacht, für einen sumpfigen Teich und übertragen für die dunklen Flecken der Sünde. Hier wird im Wörterbuch das Bezugswort oder der zitierte althochdeutsche Satz zur eigentlichen Bedeutungsinformation und gleichzeitig zum kulturgeschichtlich interessanten Hinweis auf andersgelagerte Abgrenzungen zwischen den Farbschattierungen, möglicherweise aus ganz unterschiedlichen Merkmalstrukturen (glänzend/ matt, intensiv/ fahl).
5. Die Aneignung und Verarbeitung der Vorstellungen aus der Antike und der biblischen Welt bringen den althochdeutschen Verfasser oder auch den Glossator in ein Spannungsfeld zwischen dem eigenen Vorstellungs- und Lebensbereich und dem neuen Kulturgut. Bekannt ist, daß die mittelalterlichen Autoren versuchten, die Mittelmeerflora und -fauna in ihnen Geläufiges zu übertragen. Das gilt in besonderem Maße für biblische Pflanzen und auch Tiere, etwa in Glossierungen zu Leviticus 11,18, wo die als Speise verbotenen Tiere aufgezählt sind. Dort wird charadrius (wohl der Brachvogel oder der Regenpfeifer) mit lerihha ‘Lerche’ bezeichnet, und für den Klippschliefer oder Klippdachs moderner Bibelübersetzungen steht ahd. murmunto ‘Murmeltier’ wie auch illintîso ‘Iltis’ und igil ‘Igel’. Diese Übertragungen nach der Ähnlichkeit im Aussehen bleiben bis ins 19. Jh. hinein gängig. Was mag sich der Glossator vorgestellt haben, wenn er heristrâza für die Via regia durch Israel einsetzt, und wie genau war Notkers Vorstellung vom Jerusalemer Tempel, wenn er Ps. 95 introite in atria eius mit choment in sina hova die ze sinemo hus leitent wiedergibt?
Der große Anteil biblisch-christlicher Texte sowohl in der althochdeutschen Überlieferung selbst als auch unter den glossentragenden lateinischen Texten hat zur Folge, daß in etlichen Artikeln eine Unterscheidung von allgemeinem Gebrauch und speziellem in christlichen Vorstellungen herausgestellt werden muß [so etwa bei irdisc]. Das wohl sehr alte Rechtswort êuua sowie damit gebildete Komposita haben in vielen althochdeutschen Belegen die Bedeutung ‘Gesetz, Gesetzessammlung’, dann aber wird es zur Bezeichnung des Dekalogs und auch des Neuen und Alten Testaments. Der zu êuua gebildete êuuart ist nicht etwa der Gesetzessprecher und Bewahrer der Gesetzestexte, sondern nur als Übersetzung für den jüdischen oder christlichen ‘Priester’ überliefert. Ähnliches läßt sich bei ahd. erbi ‘Erbgut’ oder âtum (neben ahd. geist) für den spiritus sanctus feststellen. fluobareri u. fluobargeist, zu mehrfach belegtem fluobiren ‘trösten’ wird zum speziellen Terminus für Paraklet, den Heiligen Geist. Mit thingman (neben anderen Bedeutungen allgemein ‘Redner, Sprecher’) wird das biblische Buch ‘Prediger’, ‘Coheleth’ bezeichnet, quem Graece Ecclesiasten Latine Concionatorem dicunt. Im Bemühen, den Gläubigen die neuen geistlichen Inhalte näherzubringen, werden auch biblische Namen im Text übersetzt: z.B. die hebräischen Ortsnamen Beth Eked mit hûs hirto und Eskol als [tal dero] thrûbôn nach lat. vallis botri.
Altes heilî (und heil st. n.) in der Bedeutung ‘günstiges Vorzeichen, Gesundheit, Glück’ zum Adjektiv heil ‘ganz, unversehrt, gesund’ wird zu ‘Seelenheil, Erlösung, Rettung’. heil wächst sich in christlicher Verwendung zu einer stark belegten Sippe aus mit heilag als stereotypem Übersetzungswort für sanctus und der Neubildung des substantivierten Partizips heilant für den ‘Retter, Erlöser’. Hier sind wir auf den Spuren der christlichen Mission des 7. und 8. Jh.s und ihren sprachlichen Auswirkungen. Solch ein neu hinzugekommener spezieller Verwendungsbereich schlägt sich natürlich in der Bedeutungsdifferenzierung nieder.
Bei antikem Gedankengut sind oft Hinweise auf mythologische Vorstellungen als Grundlage der Bedeutungsansetzung und des Textverständnisses angebracht, erst recht bei zunächst undurchsichtigen althochdeutschen Wörtern wie herigon, das virgo übersetzt. herigon ist eine Fehlschreibung für die griechische Erigone, die nach der Sage nach ihrem Tode als Sternbild ‘Jungfrau’ an den Himmel versetzt wurde.
Dem Umgang des althochdeutschen Glossators oder Autors mit dem ihm fremden und neuen Kulturgut nachzuspüren und dem Wörterbuchbenutzer zu verdeutlichen, ist eine schwierige, aber interessante Aufgabe.
6. Da im Ahd. Wb. althochdeutsche Textpassagen zitiert werden, läßt sich nicht nur durch Bedeutungsansetzungen, sondern auch gerade durch eine gut überlegte Auswahl dieser Textstellen dem Benutzer mancherlei kulturhistorisch Interessantes übermitteln, was über die direkte Bedeutungsangabe zum Stichwort hinausgeht: Notker erläutert die Abhängigkeit von Tag und Nacht am Nordpol von dem Stand der Sonne in bestimmten Sternbildern und erwähnt dabei einen Himmelsglobus, eine spera . diu in cella Sancti Galli nouiter gemachot ist . sub Purchardo abbate. An anderer Stelle finden sich Hinweise zum Stimmen der Leier. Im Artikel ahd. grunzen ‘dumpfe Laute von sich geben, grollen, verdrießlich murren’ steht Notkers Vergleich von Äther und Aer, der wetterbedingenden Atmosphäre: er ist immer heiter … si grunzet aber diccho fone ungeuuitere.
So tritt Information über Lebens- und Denkweise der Menschen vergangener Jahrhunderte, speziell der frühen Zeit altdeutschen Lebens, aus dem Archivmaterial heraus und wird einem weiteren Benutzerkreis zugänglich als nur den Archivbenutzern oder den Lesern althochdeutscher Texte.
7. Bekanntlich gab es nicht das Althochdeutsch, sondern eine Sprache, die sich in vier Jahrhunderten wandelte und vor allem sich aus einer Vielfalt von Dialekten zusammensetzt: ein Blick auf die unterschiedlichen Übersetzungswörter der Paternoster-Fassungen vom 9.–11. Jh. läßt das erkennen. Rolf Bergmann hat in seiner Untersuchung der mittelfränkischen Glossen speziell mittelfränkischen Wortschatz im Bereich althochdeutscher Zeit benannt und als solchen durch Vergleiche mit der lebenden Mundart bewiesen. Reiner Hildebrandt beschäftigt sich mit dem Sonderwortschatz der rheinfränkisch schreibenden Hildegard von Bingen. Rudolf Schützeichel hat in den ‘Grundlagen des westlichen Mitteldeutschen’ siedlungsgeschichtliche Bezüge hergestellt. Wenn nun das Ahd. Wb. bei der Verzeichnung der belegten Laut- und Flexionsformen die Belege durch die Angabe von Siglen oder Handschriften nach Zeit- und Sprachraum einordnet, liegt auch hier – gegebenenfalls im Zusammenspiel mit Mundartangaben in der Kopfleiste der Artikel – für den Spezialisten ein nicht geringer Informationswert. Theodor Frings’ ‘Germania Romana’ zeigt, wie auf der Basis solcher Angaben Kulturgeschichte geschrieben wird.
8. Elisabeth Karg-Gasterstädt wollte – gewiß an Grimms Deutschem Wörterbuch orientiert – in diesem Großwörterbuch die Geschichte von Einzelwörtern in ihrem Kulturkontext darstellen. Diese Absicht läßt sich freilich für das Althochdeutsche nur selten an besonders reich und vielfältig belegtem Wortgut erfüllen, einfach deshalb weil oft in der bruchstückhaften Überlieferung Zwischenglieder oder gar der Ausgangspunkt der Bedeutung fehlen. Ein klassisches Beispiel aber für solch eine Wortgeschichte bietet ahd. thing, von Karg-Gasterstädt selbst sowohl in einem Sitzungsbericht der SAW als auch in strenger Wörterbuchform im Artikel thing dargestellt. Sie zeigt das Wort in seiner Bedeutungsentwicklung von ‘Volksversammlung zum Zweck der Beratung oder Rechtssprechung’ über all die Zwischenstufen und Nebengeleise ‘Gerichtsplatz’, ‘Urteilsspruch als Ergebnis der Beratung’, dann: ‘die Sache, die zur Verhandlung und Beratung steht’, schließlich – mit Bedeutungserweiterung: ‘Angelegenheit, Sache allgemein’ bis hin zur Vergegenständlichung von thing im Sinne von ‘Geschöpf, Kreatur’ und ‘Ding als einzelnem, greifbarem Gegenstand’, womit wir bereits mit althochdeutschen Belegen bei neuhochdeutsch bekanntem Wortgebrauch angekommen sind.
Vielfältige Möglichkeiten, kulturhistorische Informationen durch die Artikel des Ahd. Wb.s zu übermitteln, wurden aufgezeigt. Am Schluß möge ein Satz von Elisabeth Karg-Gasterstädt stehen: „Wie die deutsche Vorgeschichte aus Grabbeigaben und den Fundamenten alter Wallanlagen das Material zusammentragen muß, aus dem sich dem Historiker das Bild vom Leben und Geschehen unserer Vorfahren aufbaut, so enthüllt sich auch in unsern Wörtern dem, der zu lesen versteht, ein gut Teil ihres Tuns und Wesens.”
Eine überarbeitete und erweiterte Version dieses Vortrags ist Teil des Festschriftbeitrags: Rudolf Große/Ingeborg Köppe, ‘Kulturelles Gedächtnis’ im historischen Wortschatz. Sachinformation im Althochdeutschen Wörterbuch. In: Sprachgeschichte als Textsortengeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Gotthard Lerchner. Hrsg. von I. Barz, U. Fix, M. Schröder und G. Schuppener. Frankfurt am Main …, 2000.