Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig
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Dr. Ute Ecker: Wissenschaftliche Koordination
1. Sprachliches Können (bis hin zur sprachlichen Meisterschaft) ist als Persönlichkeitswert unstrittig. Dieser ist jedoch nicht immer eindeutig und auch nicht von zeitlichen Bedingungen und lokalen Umständen unabhängig. Es gibt dafür auch keine universelle Messlatte.
Beispiel 1: Im heutigen Großbritannien galt die sog. Public-School-Aussprache (auch RP genannt) bis nach dem 2.Weltkrieg als hohes, d.h. hoch bewertetes, soziales Gut, etwa als Vorbedingung für die Erreichung eines hohen Regierungsamtes oder eines hohen Ranges im Militär, bes. in der Marine. Das trifft seit etwa 1950 in zunehmenden Fall nicht mehr zu.
Beispiel 2: Orthographisches und grammatisches Wissen haben zumindest in Deutschland einen hohen Stellenwert für Beruf und Ansehen gegenüber den meisten Kommunikationspartnern.
Beispiel 3: Dialektbefangenheit (allerdings mit unterschiedlicher Wertigkeit verschiedener deutscher Dialekte), jedoch nicht unbedingt der regionale Standard, ist oft von erheblich negativer Wertigkeit, z.B. für zentral verantwortliche Berufe oder in den Medien.
Beispiel 4: hohe Kommunikationsbefähigung, bes. in stilistischer Hinsicht, das sprachliche Differenzierungsvermögen, die Fähigkeit zu sprachlich geschliffener Argumentation, vor allem die Sprachkunst der Dichter und Schriftsteller erhöhen den Wert der Persönlichkeit.
Beispiel 5: gute fremdsprachliche Fertigkeiten (in einer oder mehreren Fremdsprachen) tragen zur positiven Bewertung des deutschen Muttersprachlers bei. Bei in Deutschland lebenden Ausländern spielt diese Befähigung weit weniger, wenn überhaupt, als Wert eine Rolle, sondern wird oft nur als Selbstverständlichkeit gefordert.
Schlussfolgerung: In der Öffentlichkeit und im kommunikativen Miteinander kann der SRACHGEBRAUCH durchaus persönliche und soziale Werte ausdrücken bzw. signalisieren (sowohl im Fremdbild als auch im Selbstbild).
2. Diese Beispiele sind letztlich immer PRAGMATISCH bestimmt (Pragmatik hier verstanden als Relation zwischen Sprachzeichen und Sprachbenutzern). Die pragmatische Ebene ist jedoch abzuheben von dem „Wert” der sprachlichen Zeichen in Bezug auf deren Funktionalität als Elemente des SPRACHSYSTEMS. Es macht unseren SPRACHBESITZ aus, der uns von den Tieren unterscheidet.
Jedes Sprachsystem, von der Hochsprache bis zum Dialekt, hat deshalb einen WERT per se als biologisches und soziales Gut. Es ermöglicht Kommunikation in einem jeweils adäquaten Kontext (z.B. unter Jugendlichen, in der Poesie, im Amtsverkehr, vor Gericht, ja sogar unter Gaunern und Ganoven), also in ALLEN Diskursbereichen bzw. in allen Textgenres, auf allen („gehobenen” und „gesenkten”) Stilebenen und in allen Funktionalstilen, in denen sich das Sprachsystem entfaltet und zu bewähren hat und wo es sich ständig verändert, und zwar in Abhängigkeit von der Effektivität kommunikativer Zwecke, die durchaus nicht mit den unter 1. illustrierten, oft genug aufoktroyierten, von gesellschaftlich bzw. kommunikativ dominanten Gruppen gesteuerten Normen konform gehen müssen. So ist z.B. keinem Wort, sei es dem esoterischsten oder dem vulgärsten, sein WERT, d.h. sein GEBRAUCHSWERT abzusprechen, sofern es im Rahmen bestimmter – natürlich recht unterschiedlicher – Kontexte verwendet wird.
3. Die Sprachwissenschaft mit ihren verschiedenen Abteilungen BESCHREIBT diese Ebenen und weist ihnen die GLEICHE Wertigkeit zu und dies immer im Rahmen ihrer jeweiligen funktionalen, jedoch wertemäßig neutralen Bedingungen, unter denen solcher Usus empirisch angetroffen wird. Deskription der Elemente und Relationen des Sprachsystems und seiner Gliederungen wird ohne Rücksicht auf WERTE vorgenommen. Indes ist diese WERTFREIHEIT nicht absolut, sondern dient gleichzeitig der flexiblen Ermöglichung und ständigen Erneuerung der Funktionalität des sprachlichen Systemgefüges. In Anlehnung an de Saussure hat das System einen VALEUR, der garantiert que tout se tient. Es gehört zu Kohäsion und Kohärenz, zur Intentionalität und Akzeptabilität sprachlichen Handelns, daß alle Zeicheneinheiten und –sequenzen, alle Strukturen und Bezüge „zueinander passen”. Eine „gehobene” Lexik und eine „geschraubte” Grammatik, die für „höhere” Ebenen adäquat sein können, sind für eine „niedere” Ebene völlig unpassend, und umgekehrt haben lexikalische „Ausgeburten” des Slang oder noch „tieferer” Ebenen oder grammatische „Korrumpierungen”, wie sie z.B. in Dialekten zu finden sind, als Realisierung „gewählterer” Ebenen einen sehr negativen Wert. Obwohl „an sich” wertfrei, erreichen sie so NICHT ihren Gebrauchswert, es sei denn als absichtliche Signalisierungen anderer Intentionen, also z.B. als Kontrastmittel.
Beispiel 6: Für den Lexikographen gibt es keine WERTLOSEN Wörter. Alle Lemmata sind ihm gleich „heilig”. Er muß sie nur richtig behandeln, ihnen die jeweils gemäße Beschreibung zuweisen.
4. Wie lassen sich diese beiden Konzepte von BEWERTUNG und WERTFREIHEIT verbinden? Die simple Antwort „Alles gehört an seinen Platz” erhält tatsächlich schon den Kern der Wahrheit. Sie deutet auch schon eine gewisse Erklärung über die Beschreibung hinaus an. In einem SEMIOTISCHEN Zusammenhang, der bereits mehr als Linguistik und andere zeichenbezogene Disziplinen umfasst, kann auf das Tripel SYNTAKTIK; SEMANTIK und PRAGMATIK verwiesen werden Dabei untersuchen die ersten beiden Disziplinen die Beziehungen zwischen Zeichen und Zeichen (Syntaktik) und zwischen Zeichen und Bewusstsein bzw. Kognition (Semantik), die dritte schließlich beschäftigt sich mit den Relationen zwischen Zeichen und Zeichenbenutzern (Pragmatik). Alle drei Aspekte bzw. Blickrichtungen sind in der wissenschaftlichen Analyse zu unterscheiden, obwohl sie sich durchaus auf eine übergreifende komplexe kommunikative Realität beziehen. Als gesonderte Sichtweisen sind sie aber unumgänglich, wenn auch in Überwindung früherer semiotischer Vereinfachungen die moderne Linguistik syntaktische und semantische Aspekte viel stärker kombiniert und zunehmend als Implementierung der Pragmatik versteht.
In der Öffentlichkeit, besonders in den Medien, und auch in vielen nicht-linguistischen Wissenschaftsdisziplinen dominiert jedoch beim Blick auf die Sprache der pragmatische Gesichtspunkt. Trotz dieser „Arbeitsteilung” kommt es ständig zu Grenzüberschreitungen, bei denen meist pragmatische Orientierungen auf linguistische, also etwa auf syntaktische und vor allem auf lexikalische Sachverhalte projiziert werden. Es werden Aussagen über sprachliche Erscheinungen getroffen, die den MENSCH-ZEICHEN-Vorstellungen, also der PRAGMATISCHEN BEWERTUNG zuwiderlaufen. Für den Linguisten können die meisten dieser WERTZUMESSUNGEN nicht gelten, weil sie an den Beschreibungsintentionen und auch den dafür entwickelten Erklärungsmodellen vorbeigehen.
5. Als einen der Gründe für solche Missverständnisse und Fehleinschätzungen scheint mir eine besonders in Deutschland erheblich unterentwickelte linguistische Perspektive in der Öffentlichkeit verantwortlich zu sein. Sie ist schon in der Schule anzutreffen, wo z.B. Sprache weitgehend auf Orthographie und Schulgrammatik reduziert wird. Sie ist ebenfalls im Fremdsprachenunterricht weit verbreitet und verstellt den Blick für das Lernziel. Aber auch in den Medien ist eine wissenschaftlich fundierte Einstellung zur deutschen Sprache (und oft auch zu Fremdsprachen) nicht vorhanden. Ausnahmen wie z.B. die Beiträge von D. Zimmer in der ZEIT bestätigen nur die Regel. Andererseits haben auch die Linguisten selbst kaum etwas getan, um dieser Schieflage in der Öffentlichkeit entgegenzuwirken, etwa im Vergleich zu den englischsprachigen Ländern, bes. den USA. Im Gegenteil, es werden die realistische Bezugnahme auf pragmatische Sachverhalte und die allgemeinverständliche Analyse von syntaktischen, semantischen und stilistischen Strukturen unterschätzt und gegenüber für den innerlinguistischen Wissenschaftsbetrieb durchaus dringlichen theoretischen Positionsbestimmungen zurückgestellt. Dadurch kommen für breitere Kreise interessante Darstellungen der Zusammenhänge zwischen unumgänglicher Wertfreiheit und notwendigen Bewertungen nicht zustande.