Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig
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Dr. Ute Ecker: Wissenschaftliche Koordination
Zu den Geisteswissenschaften oder Kulturwissenschaften gezählt zu werden, hat die Sprachwissenschaft als ein keineswegs unumstrittenes aber pragmatisches und begründbares Klassement im Rahmen der sciences humaines akzeptiert. Diese Einordnung kann schwer an der Frage vorbeigehen, wie sich die Linguistik zu Problemstellungen verhalten soll, die den klassischen Geisteswissenschaften inhärent sind aber nicht oder nur peripher aus ihr selbst, ihrer Tradition wie aktueller Behandlung, hervorgehen. Dazu gehört die Problematik der Wertvorstellungen, die geradezu konstitutiv für die Geisteswissenschaften sind. Hans-Georg Gadamer spricht z.B. von … zutiefst verschiedenen Kulturen und Religionen, Sitten und Wertsystemen in unserer immer näher zusammenrückenden Welt. (Hans-Georg Gadamer im Gespräch. Hrsg. von C. Dutt, Heidelberg 1995.)
Wie nehmen sich Wertvorstellungen von solcher Tragweite in der Sprachwissenschaft aus oder welche anderen Wertkonzepte kann oder muss sie in ihren Kompetenzbereich nehmen? Anders gesagt: Welche empirische und theoretische Behandlungsweise natürlicher Sprache ist mit Wertvorstellungen und Bewertungen verknüpft und kann diese spezifizieren?
Was wir unter Sprache verstehen, soll anhand gängiger Unterscheidungen in Bezug auf seine Wertesensibilität kurz erörtert werden.
Nehmen wir zunächst Sprache in ihrem Verständnis als menschliche Sprachfähigkeit, die Bedingung für Erwerb und Ausübung einer Sprache ist. Langage – so hat de Saussure diese Fähigkeit genannt – kann als genetische Ausstattung im Sinne einer kognitiven Spezialisierung der menschlichen Gattung begreifbar sein und theoretisch erfassbar als System einer Universalgrammatik, das im einzelnen allerdings noch keineswegs geklärt und auch nicht unumstritten ist. Die Sprachfähigkeit ist zweifellos ein hohes menschliches Gut, aber sie ist kein Wert. Sie könnte allerdings danach bewertet werden, ob sie etwa als Universalgrammatik ein ideales, ein perfektes Instrument für die Laut-Bedeutungszuordnung ist, für die Relation der interfaces, die phonetische und die konzeptuelle Struktur. Man möchte sich vielleicht eine Syntax effizienter, einfacher vorstellen als sie gegenwärtig theoretisch begriffen wird. Aber wir verfügen über keine unabhängige Information darüber, was hier vollkommener sein könnte. Der adaptive, evolutionäre Vorteil, den die Sprachfähigkeit, sei es in der theoretischen Gestalt der Universalgrammatik, verschafft hat, ist nicht abhängig von Perfektion in irgendeinem Sinne.
An Sprache im Verständnis einer Einzelsprache als sozio-kultureller Institution (langue) lässt sich keine rationale Werteskala anlegen. Alle Sprachen sind wert(e)gleich. Werden einer Sprache Dithyramben gewidmet, so sind die Träger dieser Sprache vielleicht auch die Landschaft oder das Land, in dem sie gesprochen wird, die eigentlichen Adressaten.
Von Werteverlust kann gesprochen werden, wenn Voraussagen auch nur partiell zutreffen, die den Untergang und das Erlöschen von Tausenden von Sprachen im begonnenen Jahrhundert prognostizieren. 420 Sprachen werden bereits als „fast erloschen” (nearly extinct) charakterisiert. Verloren gehen können damit lexikalische Schätze als Quelle und Schlüssel begrifflicher Welterfassung, als „Sitz” des kulturellen Gedächtnisses.
Schließlich, last but not least wird von „Sprache” im Sinne von Eigenschaften der Sprachverwendung gesprochen, bezogen auf Institutionen oder Individuen: Die Sprache der Bildzeitung, der Reichsgerichtsentscheidungen, die „Sprache” Thomas Manns im Doktor Faustus. Werte und Werturteile verschiedener Modalitäten, im besonderen ästhetische, sind hier greifbar.
Indirekte, dem Sprecher, nicht der Sprache zugute kommende, z.B. soziale Werte, lassen sich gewinnen, wenn er/sie über mehrere Sprachvarianten oder -varietäten verfügt und diejenige zum Gebrauch auswählt, die ihm/ihr z.B. mehr soziales Prestige zu verschaffen scheint.
Man könnte in eine Wertediskussion unter Linguisten Gedamers spezifische Behandlung von Sprache und Verstehen im geisteswissenschaftlichen Kontext einbeziehen. Der dritte Teil von Wahrheit und Methode ist dem Problem der Sprachlichkeit des Verstehens gewidmet, seiner Sprachgebundenheit. Die sprachliche Auslegung bringe das Verstehen zur ausdrücklichen Ausweisung, sie sei die Konkretion des Sinnes. Die im Verstehen geschehende Verschmelzung der Horizonte – sagt Gadamer – sei die eigentliche Leistung der Sprache. Auf die Frage des Gesprächspartners: „Was ist die Sprache, daß sie dies leistet”, antwortete er mit Wittgensteins Satz „Es gibt keine Privatsprache”, ein Satz, den er ausführlich paraphrasiert. In dem Zusammenhang des Verstehens des Verstehens scheinen Berührungspunkte erkennbar zu Wittgensteins These aus dem Tractatus logico-philosophicus: Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.